Mittwoch, 28. Juni 2017

Eine knappe Mehrheit für das bedingungslose Grundeinkommen.

aus ipsos, 13. Juni 2017

Jeder zweite Deutsche für bedingungsloses Grundeinkommen.

Hamburg, 13. Juni. Jeder zweite Deutsche (52%) ist für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Nur jeder fünfte (22%) spricht sich dagegen aus, fast ebenso viele sind in dieser Frage unentschieden. Das ergab eine aktuelle länderübergreifende Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit hinter Serbien und Polen, wo 67 bzw. 60 Prozent der befragten Personen ein universelles Grundeinkommen befürworten.

Am wenigsten Fürsprache erhält das Grundeinkommen in Spanien (31%) und Frankreich (29%). Dort wird es von fast jedem zweiten Befragten abgelehnt (45% bzw. 46%). In den USA (je 38%) und in Großbritannien (33% Zustimmung, 38% Ablehnung) sind Zustimmung und Ablehnung nahezu gleichgroß.

Grundeinkommen als geeignetes Mittel gegen Armut

Sechs von zehn (59%) der Befragten in Deutschland glauben, dass mit einem Grundeinkommen die Armut in ihrem Land reduziert werden könnte, nur jeder achte Deutsche (13%) widerspricht.

Die Menschen in Kanada sind ähnlich optimistisch (61%), in den USA sind es 56 Prozent. In Belgien (54%). Großbritannien (51%) und Schweden (52%) gibt es leichte Mehrheiten für diese Ansicht. Allein die Franzosen sind in der vorliegenden Studie überaus skeptisch, 30 Prozent glauben nicht, dass ein Grundeinkommen die Armut in Frankreich reduzieren könnte.

Mehr Zeit für Familie und soziales Engagement

Die Mehrheit der Deutschen (61%) sind der Meinung, dass die Einführung eines Grundeinkommens ihnen die Möglichkeit geben würde, mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Dass sich die Menschen durch ein Grundeinkommen häufiger in der Gemeinschaft engagieren würden, glaubt immerhin noch knapp die Hälfte (46%). Damit liegen die Deutschen in beiden Fragen über dem Durchschnittswert der zwölf untersuchten Länder. Allerdings sind viele Deutsche in ihrer Meinung auch noch unsicher, denn 30 bzw. 37 Prozent stimmen den Aussagen weder zu, noch lehnen sie diese ab.

Sinkende Arbeitsmoral bei Einführung eines Grundeinkommens

Potentielle Nachteile eines Grundeinkommens werden in Deutschland weniger häufig wahrgenommen als in anderen Ländern. Dennoch glaubt ein knappe Mehrheit der Deutschen (55%), dass ein Grundeinkommen die Menschen davon abhalten würde, einer Erwerbsarbeit nachzugehen oder sich diese zu suchen (weltweit 53%). Und fast jeder Zweite (47%) sieht die Gefahr, dass ein Grundeinkommen die Menschen abhängiger vom Staat machen würde (weltweit 58%).

Eine zunehmende Abhängigkeit vom Staat wird mit jeweils mehr als zwei Dritteln am stärksten in den USA (69%) und in Frankreich (67%) als negative Konsequenz gesehen. In diesen Ländern erwartet auch ein Großteil der Befragten, dass ein Grundeinkommen die Menschen davon abhalten wird, einer Erwerbsarbeit nachzugehen (USA: 63%, Frankreich (61%).

Deutsche bei der Finanzierung des Grundeinkommens vergleichsweise optimistisch

Vier von zehn Deutschen (42%) glauben, dass ein Grundeinkommen die Steuern auf ein unbezahlbares Niveau anheben würde (weltweit 49%). Knapp ein Viertel (24%) meint, dies hätte keine steuerliche Auswirkung (weltweit 19%). Damit ist Deutschland bezüglich der Finanzierbarkeit eines Grundeinkommens das optimistischste Land unter den G7-Staaten (Japan war nicht Teil der Erhebung).

Die größte Skepsis herrscht wiederum in Frankreich. Dort glauben fast zwei Drittel (63%), die Steuerlast würde durch ein Grundeinkommen untragbar. Auch in den USA und Großbritannien fürchtet noch ungefähr jeder zweite (56% bzw. 49%) ein unbezahlbares Steuerniveau.

Dr. Robert Grimm, Leiter Politik- und Sozialforschung: „Macht es frei, verringert es Armut und senkt die Abhängigkeit vom Staat?" Die Vor- und Nachteile eines bedingungslosen Grundeinkommens wurden in den letzten Jahren auf europäischer Ebene ausgiebig diskutiert. Die Schweizer lehnten es 2016 in einem Referendum ab, in Finnland wird es dieses Jahr mit einer signifikanten Anzahl von Probanden getestet. Deutsche Politiker und Experte sind hingegen eher skeptisch. Das bedingungslose Grundeinkommen liegt nach Meinung der SPD außerhalb der „ökonomischen Vernunft“  und auch Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, glaubt nicht, dass ein Grundeinkommen dazu beiträgt, die Chancengleichheit in Deutschland zu erhöhen. Die Deutschen selbst sind sich noch uneins. Wäre es vielleicht deshalb an der Zeit, eine solche Initiative in einem sozialen Experiment ordentlich zu evaluieren?“


Nota. - Dass die Debatte in die Breite geht, kann man nur begrüßen. Verständlich ist auch der grundsätzliche Pragmatismus in dieser Frage: "Probieren geht über studieren", sagt der gesunde Menschenverstand - und meint, man solle irgendwo einen großen Feldversuch durchführen. 

Nur ist gerade das unrealistisch. Bevor man auch nur theoretisch ein Experiment ins Auge fasst, sei es ein physikalisches, sei es ein soziales, müssen erst die Versuchsbedingungen festgestellt werden - die sachlichen Prämissen, unter denen der Versuch durchgeführt werden soll. Aber das bedingungslose Grundeinkommen würde ebendiese Prämissen selber verändern. Nur weiß man nicht, wie - denn  das sollte mit dem Feldversuch ja erst herausgefunden werden!

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Das einstweilen geltende Gesellschaftsmodell geht davon aus, dass Wertschöpfung letzten Endes nur durch menschliche Arbeit geschieht. Die Öffentlichen Angelegenheiten können daher nur bezahlt werden durch einen Anteil an der gesamtgesellschaftlich erbrachten Arbeit. Auf Deutsch: Letzten Endes sind unsere Steuern ein Abzug vom Arbeitsertrag. Die Arbeit wird besteuert. 

Das Argument für das Grundeinkommen ist aber: In der Industrie 4.0 entstehen die - explosionsartig anwach- senden - Werte nicht länger aus der - schwindelerrend schwindenden - menschlichen Arbeit. Gewinne werden offenbar immer noch gemacht, aber sie sind kaum noch Resultat wirklicher gegenwärtiger Arbeit, sondern von Jahrhunderten vergangener Arbeiten, die in Wissenschaft und Technik vergegenständlicht sind. Nicht die lebendige Arbeit sollte besteuert werden, sondern die akkumulierte tote.

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Angenommen, Schleswig-Holstein führte bei sich ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1000 € ein - diese Idee hat die Diskussion bei uns neu entfacht. Aus dem eigenen Steueraufkommen von Schleswig-Holstein werden sie es kaum bezahlen wollen noch können. Was wäre für die Finanzierbarkeit also erwiesen? Was wäre bewiesen, wenn ein paar Zehntausend erstmal für ein paar Monate - oder auch Jahre, wer weiß das schon - blaumachten? Wenn einer entscheiden kann, sein ganzes Leben der schönen Kunst oder dem Erkunden fremder Länder, der interesselosen Betrachtung, dem Lob seines Herrn oder womöglich der frohen Geselligkeit zu widmen, ohne sich über seinen Lebensunterhalt den Kopf zerbrechen zu müssen, ist das - eine ganz andere Welt

Das kann man nicht "einfach mal ausprobieren". Da muss man viel ausforschen, da muss man viel nachdenken, da wird man vor allem: viel streiten müssen. 

Aber zu all dem muss man sich erst einmal die Mittel geben. Und darum kann der Streit nicht früh genug und nicht breit genug geführt werden, denn schon das allein wird ordentlich was kosten.
JE


Dienstag, 27. Juni 2017

Keine Ehe für alle.


 
Der ursprüngliche Grund, die Ehe rechtlich und namentlich steuerrechtlich zu privilegieren, war der: Nur in der Ehe werden legitime Kinder geboren, die den Familienbesitz erben und vererben können. Eine Gesellschaft, die meinte, auf Familie und auf Eigentum zu gründen, konnte nicht anders entscheiden.

In Zeiten des anonymen Aktienkapitals, das von Angestellten verwaltet wird, steht das Erbrecht nicht mehr im Vor- dergrund. Es ist nicht einmal mehr die Regel, dass aus einer Ehe Kinder hervorgehen - und auch nicht die Regel, dass ein Kind aus einer Ehe hervorgeht.

Man könnte nun sagen: Streichen wir das Institut einfach, dann haben wir einen Zankapfel weniger. Denn einen Grund, das Zusammenleben von zwei Leuten, seien es Frauen, seien es Männer, steuerlich oder sonstwie zu privi- legieren, gibt es nicht: Das sind Privatangelegenheiten, die den Staat nichts angehen. Ein gemeinsamer Haushalt ist in der Regel ohnehin billiger.

Schon richtig, nur gibt es eben Lebensgemeinschaften von jeweils einem Mann und einer Frau, in denen tatsächlich Kinder geboren werden. Das Großziehen der Kinder muss allerdings von der staatlichen Gemeinschaft unterstützt werden. Und dass der Mann und die Frau zusammenbleiben, solange die Kinder minderjährig sind, verdient eben- falls öffentliche Förderung. Das hat mit dem Rechtsinstitut Ehe aber nichts zu tun.

Nun war die steuerliche Privilegierung der Ehe allerdings auch als Aufforderung zum Kinderkriegen gedacht: Der gemeinsame Haushalt sollte finanziell so gestellt sein, dass ein elementarer Hausstand, der für die Kinderaufzucht erforderlich ist, überhaupt erst eingerichtet werden konnte: eine "ursprüngliche Akkumulation". Aber auch dazu ist das Rechtsinstitut Ehe nicht unverzichtbar. So konnten in der DDR großzügige Familiendarlehen fruchtbar abge- kindert werden. Und auch im Westen kommen Kinder inzwischen viel zu oft ohne Rücksicht auf die wirtschaftlich-sozialen Lebensbedingungen zu Welt. Wenn andererseits Eheleute sagen, sie wollten ja Kinder haben, aber sie hätten noch nicht genug angeschafft, dann kann man die Kinder, die dort nicht zur Welt kommen, nur beglückwünschen.

Kurz und gut, man könnte ohne reellen gesellschaftlichen Schaden das Institut Ehe getrost abschaffen, für alle.


 

PS. - Dies vergaß ich hinzuzufügen: Dazu hielte auch ich eine Verfassungsänderung für angezeigt.
JE




Kein Ende der Migrationen - im Gegenteil.

Blick auf einen Teil des Mississippi-Deltas. Allein dieses wird durch den Meeresspiegelanstieg in den nächsten 50 Jahren rund 5.000 Quadratkilometer Landfläche verlieren.
aus scinexx                                                                                                                           im Mississipi-Delta

Zwei Milliarden Klimaflüchtlinge bis 2100?
Steigende Meeresspiegel könnten Massenflucht aus Küstengebieten auslösen

Massenhafte Küstenflucht: Bis zum Jahr 2100 könnte ein Fünftel der Weltbevölkerung zu Klimaflüchtlingen werden – wenn der Klimawandel ungebremst weitergeht. Denn die steigenden Meeresspiegel könnten dann eine Massenflucht aus den dicht bevölkerten, aber zunehmend überfluteten Küstenregionen auslösen. Bereiten sich die Länder darauf nicht vor, könnten nutzbare Flächen im Landesinneren knapp werden, warnen Forscher.

Dass es in Zukunft immer mehr Klimaflüchtlinge geben wird, ist nicht neu. Bereits im Jahr 2010 waren weltweit 42 Millionen Menschen auf der Flucht vor klimabedingten Naturkatastrophen – Tendenz stark steigend. Die Gründe sind dabei vielfältig: Vor Kurzen erst warnte die UN, dass allein der zunehmende Landverlust durch Bodenerosion in den nächsten zehn Jahren 50 Millionen Menschen zu Flüchtlingen machen wird. Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas könnte zudem schlicht zu heiß für eine Besiedlung werden. 

Ozean frisst Küstengebiete 

Doch dies ist noch nicht alles, wie Charles Geisler von der Cornell University und Ben Currens von der Kentucky University erklären. Denn wie sie ermittelt haben, könnten vor allem die steigenden Meeresspiegel eine wahre Völkerwanderung auslösen. "Bisher hat die Menschheit beträchtliche Mühe darauf verwendet, den Meeren neues Land abzuringen", erklärt Geisler. "Aber jetzt müssen sie mit dem Gegenteil leben – die Ozeane erobern weite Landflächen unseres Planeten zurück." 


Besonders von Überschwemmungen bedroht sind schon heute gerade die dicht besiedelten und fruchtbaren Küstenniederungen und Flussdeltas. Geht der Klimawandel ungebremst weiter, könnten bis 2100 weite Teile dieser Flächen überflutet oder zumindest von regelmäßigen Sturmfluten bedroht sein, sagen die Forscher.

Massenexodus aus den Küstengebieten

"Jüngste Forschungen deuten darauf hin, dass der globale Meeresspiegelanstieg die niedrig liegenden Küstengebiete schneller als erwartet gefährden wird", so Geisler und Currens. "Dies wird die Küstengeografie verändern, die bewohnbare Landmasse verringern und signifikante Migration aus den Küstengebieten heraus auslösen." Vom Meer vertrieben müssen die Küstenbewohner weiter ins Inland ausweichen, möglicherweise wird es sogar Massenumsiedlungen und Evakuierungen geben.

Der Ballungsraum Shenzen in China liegt direkt an einem Flussdelta

Hinzu kommt: Bis 2100 werden die Ballungsräume entlang der Küsten noch dichter besiedelt sein als heute. Nach Schätzungen der UN könnte die Weltbevölkerung bis 2050 auf neun Milliarden Menschen anwachsen, bis 2100 könnten es elf Milliarden sein. Geisler und Currens schätzen, dass bis zum Jahr 2060 bereits 1,4 Milliarden Menschen zu Klimaflüchtlingen werden könnten. Bis zum Jahr 2100 könnten es im Extremfall zwei Milliarden werden – knapp ein Fünftel der gesamten Menschheit.

Wird nutzbares Land knapp?

Das Problem: Die Flächen im Landesinneren sind begrenzt. Ein Teil davon ist für eine Besiedlung oder Bebauung ungeeignet – beispielsweise, weil sie zu gebirgig sind. Ein weiterer Anteil ist zu trocken und durch Desertifikation nicht bewohnbar und auch nicht als Anbaufläche nutzbar. Auch dort, wo schon Ballungsräume liegen und die Landschaft weitgehend zersiedelt und bebaut ist, bleibt nur wenig Raum für die einwandernden Küstenbewohner. 

"Wir werden schneller, als uns lieb ist, mehr Menschen auf immer weniger Land haben" sagt Geisler. Er und sein Kollege schätzen, dass rund ein Drittel der globalen Landfläche nicht ohne weiteres besiedelbar oder nutzbar ist. Die Konkurrenz um Land und die Landnutzung könnte sich daher erheblich verschärfen. Denn um die Menschen zu ernähren, werden auch künftig große Landflächen für die Landwirtschaft benötigt.

Beste Vorbeugung ist Klimaschutz

Er und sein Kollege appellieren an die Länder, frühzeitig Strategien für die kommende Verlagerung der Bevölkerung weiter landeinwärts zu entwickeln. Tatsächlich haben einige Regionen, darunter der US-Bundesstaate Florida bereits Pläne dazu, wie ein zunehmender Einstrom von Menschen ins Inland künftig aufgefangen werden kann. 

Noch allerdings könnte das Extremszenario abgewendet werden - durch entschiedenen Klimaschutz. "Wir stehen unter Druck, die Treibhausgas-Emissionen auf heutigen Niveau zu halten", sagt Geisler. "Das ist die beste Versicherung gegen den Klimawandel, den Meeresspiegelanstieg und die katastrophalen Konsequenzen, die den Küsten, aber auch dem Landesinneren in Zukunft drohen könnten." (Land Use Policy, 2017; doi: 10.1016/j.landusepol.2017.03.029)
(Cornell University, 27.06.2017 - NPO) 


Nota. -  Das ist etwas anderes als der Flüchtlingsstrom von 2015. Da ging es ums Asylrecht; um politische Verfolgung und um humanitäre Katastrophen. Da kann man immer noch hoffen, dass uns die irgenwann erspart bleiben. Denn das Asylrecht ist ein Grundrecht, das kann man nicht nach oben begrenzen. Da müsste man sich schon darauf verlassen können, dass die Nachbarn mithelfen.

Hier ist aber die Rede von einer historischen Migration. Das ist keine Sache der Grundrechte, sondern des bloßen Menschenverstands, dass wir uns darauf vorbereiten müssen - um die Ströme womöglich so zu lenken, dass die aufnehmenden Länder gar einen Vorteil davon haben. Das ginge von Anfang an nur im Zusammenwirken der europäischen Nachbarn, denn zu uns werden sie drängen. Ob es realistischer Weise eine europäische Obergrenze geben kann (Wo sollten denn die hin, die nicht zu uns dürften?), wird man sehen müssen, aber es ist keine Sache des Rechts, sondern der tatsächlichen Möglichkeiten. Dass die Flüchtlingsströme in Europa je nach aktueller Zumutbarkeit gelenkt werden müssen, liegt auf der Hand - und dass grundsätzlich ein Land das Recht haben muss zu sagen: Im Augenblick geht nicht mehr. Dass es im konkreten Fall Meinungsverschiedenheiten geben wird, auch.

Übrigens: Selbst dass man die, die zuviel sind, an den Grenzen nicht einfach abknallen kann, ist keine Frage des guten oder bösen Herzens, sondern ein Sache des kühlen Verstandes: Dann stünde die Welt in Flammen, und von einer internationalen Friedensordnung dürfte nichtmal mehr geträumt werden.
JE


Sonntag, 25. Juni 2017

Hat ers nicht verstanden oder pfeift er im Wald?



Angela Merkel und der CDU einen "Anschlag auf die Demokratie" vorzuwerfen, weil sie um der "asymmetrischen Demobilisierung" willen eine Debatte um die großen Zukunftsfragen der Nation verweigere, ist Wahlkampfgetöse in unpassend schrillem Ton. Dramatisch ist nur die Lage der SPD, nicht die Deutschlands. Wenn er dagegen vom Durchwursteln spricht, trifft er den entscheidenden Punkt - aber von der falschen Seite. Er hat nicht begriffen, dass Angela Merkels Stärke darin liegt, dass sie Politik nach Hausfrauenart glaubhaft macht in einer historischen Situation, wo alles andere wahnwitzig wäre.

Für die gegenwärtige volatile Weltlage gibt es keinen Vorläufer, an dem man sich orientieren könnte, und das gilt nicht nur für die machtpolitischen Konstellationen, sondern für die Zukunft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung selbst. (Zum Thema digitale Revolution hat sich Frau Merkel übrigens früher vernehmen lassen als die SPD und Schulz.) In der unübersichtlichen Gemengelage der Tagesgeschäfte ist Sichtflug das einzig Realistische, und es kommt darauf an, dass man dem, das heißt in diesem Fall: der vertrauen kann, die das Ruder hält. Zugeben wird das kaum einer, aber das ist zweifellos der Grund, warum Angela Merkel auch im kommenden September wiederge- wählt wird.


*

Damit ist eigentlich alles gesagt, was zum SPD-Parteitag zu sagen nötig ist. Zum Überfluss füge ich hinzu: Die deutschen Wähler haben in dem Punkt völlig recht. Nicht nur wissen wir, dass wir uns auf Mutti verlassen können; wir wissen auch, warum: weil sie nämlich in der alles entscheidenden Zukunftsfrage der Nation längst klar und deutlich... nein, nicht gesagt, sondern praktisch vorgeführt hat, wo ihre Vision hingeht: Europa starkmachen in der Welt, und das muss sich Deutschland notfalls etwas kosten lassen, weil es sich das mehr als andere leisten kann. 

Es war das Flüchtlingsthema, Herr Schulz, an dem die ganze Welt erkannt hat, wofür Frau Merkel steht und worauf sie hinauswill. Wenn Sie ein ehrlicher Mann wären, hätten Sie das in Ihrer heutigen Rede sagen müssen, aber dann würden Sie nicht mehr gegen sie kandidieren können. Also beschwören Sie ein Attentat auf die Demokratie herauf. Das ist jämmerlich und verdirbt die Sitten.. 

Dass Sie's nicht verstanden hätten, glaube ich eigentlich nicht. Es bleibt Ihnen nur nichts anderes mehr übrig und Sie pfeifen im Wald. 



Sonntag, 18. Juni 2017

Sie hat es wieder getan.


Marianne charmante

Böse Zungen meinen, an der Rede vom Nationalcharakter sei doch was dran; die Franzosen jedenfalls würfen sich jedem Sieger leidenschaftlich an den Hals und seien nachträglich schon immer für ihn gewesen. Bisher jedenfalls war es so. Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht lernen auch unsere Nachbarn dazu. An Leidenschaft scheint es diesmal jedenfalls zu fehlen. Eine absolute Mehrheit mit Ach und Krach, bei einer Wahlbeteiligung, die so niedrig war wie noch nie in der Fünften Republik.

Aber Mehrheit ist Mehrheit. Bloß nicht wieder die, die wir immer hatten, haben sie gedacht. Dass er keiner von de- nen sei, glaubt ihm keiner wirklich, doch vielleicht geschieht ja mal ein Wunder.




 

Freitag, 16. Juni 2017

Der Pirat als Mythos.


aus Der Standard, Wien,15. Juni 2017

Wissenschafter untersuchen den Piraten-Mythos
Freibeuter, Widerstandskämpfer, Selfmademen oder doch einfach Verbrecher? Um Piraten ranken sich von jeher zahlreiche Mythen


Wien/Innsbruck – Ausgestorben sind Piraten bekanntlich nicht, aber der Ruf "Auf zum Entern!" war früher häufiger zu hören: Zahlreiche Freibeuter von Königs Gnaden und unabhängige Seeräuber trieben lange Zeit auf den Weltmeeren ihr Unwesen. Auch der Landbevölkerung blieb das nicht verborgen, weshalb zahlreiche Mythen und Erzählungen über die Kaperfahrer entstanden, die mündlich, literarisch und später filmisch weiterverbreitet wurden: Piraten sind bis heute der Populärkultur erhalten geblieben.

Dennoch habe die Kulturwissenschaft bisher einen Bogen um diese Figur gemacht, konstatiert Alexandra Ganser vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien: "Die Geschichtswissenschaft hat die Piraterie schon sehr gut aufgearbeitet und ihre sozialen und politischen, aber auch juristischen Aspekte erforscht. In der Kultur- und Literaturwissenschaft gibt es dazu aber noch recht wenig." Die Amerikanistin möchte dazu beitragen, diese Forschungslücke zu füllen, und untersucht derzeit in einem vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Elise-Richter-Projekt amerikanische Piratennarrative in Schrift, Bild und Überlieferung in der Zeit von 1678 von 1865.

Ganser verweist auf den politischen Gehalt dieser Erzählungen: "Der Pirat ist eine ambivalente Figur, die ein Held, aber auch ein Monster sein kann. Er wird gerne bemüht, um politische Handlungsmacht zu rechtfertigen oder zu delegitimieren." Somit ist er je nach Perspektive ein Widerstandskämpfer mit berechtigten Motiven oder ein Verbrecher, dem man das Handwerk legen muss.

Die Literaturwissenschafterin stieß etwa in US-Archiven auf zahlreiche Darstellungen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, in denen die Konföderierten von gegnerischer Seite als Piraten gezeigt werden, was sich vermutlich auch mit der gegen die US Navy aufgestellten Flotte der Südstaaten erklärt. Die Marine wurde von Thomas Jefferson ursprünglich gegründet, weil die junge Republik ohne den Schutz der britischen Seemacht der zahlreichen Entführungen nicht mehr Herr wurde.
Andererseits sei der Seeräuber Ganser zufolge als "Entrepreneur", der der Armut entflieht und sein Wüten zum erfolgreichen Gewerbe macht, wiederum eine Figur, die mit dem amerikanischen Selbstbild vom aufstrebenden Geschäftsmann im Land der unbegrenzten Möglichkeiten kompatibel ist. 

Recht und Moral 

Ganser beschränkte sich aber nicht allein auf die USA: In der Karibik sprach sie mit Einheimischen und hörte dort häufig Überlieferungen, in der Piraten immer noch als Volkshelden im Kampf gegen die Sklaverei dargestellt werden. Ohnehin sei ein komparatistischer Zugang bei dieser Thematik angebracht, weshalb die Amerikanistin appelliert, die Figur des Piraten in anderen Sprach- und Kulturräumen in den Blick zu nehmen: "Jede Epoche und Gesellschaft verhandelt über die Figur des Piraten ihre Vorstellungen von Recht und Moral."

Diese Einschätzung teilt auch Eugen Pfister vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der untersucht, welche gesellschaftlichen Vorstellungen sich hinter den Darstellungen von den Männern (und manchmal auch Frauen) mit Augenklappen und Holzbeinen verbergen. "Mir geht es weniger darum zu überprüfen, ob diese Bilder authentisch sind, sondern mich interessiert vielmehr, welche kulturellen Botschaften kommuniziert werden – also was für Werte und Tabus die jeweilige Epoche mit diesen Darstellungen zu erkennen gibt."

Ohnehin gehen Piraten in modernen Darstellungen laut Pfister immer seltener ihrer eigentlichen Tätigkeit – dem Kapern – nach und suchen stattdessen vermehrt nach Schätzen oder bekämpfen magische Wesen. Die neuerdings wieder gestiegene Popularität des Piraten hält Pfister für ein Indiz der wachsenden Skepsis gegenüber dem Staat und der Demokratie: Dementsprechend kommen die staatlichen Instanzen in neueren Piratenfilmen wie Fluch der Karibik oder dem Computerspiel Assassin's Creed IV: Black Flag entsprechend schlecht weg – im Gegensatz zu den antiautoritären Freigeistern, als die Seeräuber heute vermehrt dargestellt werden.

Pfister: "Diese Darstellungen bedienen auch einen stärker werdenden Individualismus, der sich zunehmend in Opposition zu staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle definiert." Der popkulturelle Pirat von heute ist also weniger der bösartige Kriminelle als der fröhliche Abenteurer, der allein auf sich selbst vertraut.

Das ist ein Bild, das sich nicht unbedingt mit der historischen Realität deckt, wie Mario Klarer vom Institut für Amerikastudien der Universität Innsbruck aufzeigt. Er beschäftigt sich nämlich weniger mit den Piraten selbst als vielmehr mit der Perspektive ihrer Opfer: In dem ebenfalls vom FWF geförderten Projekt "Escape" untersucht er die Berichte der im Mittelmeer versklavten Heimkehrer vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. "Das ist ein paneuropäisches Phänomen. Wir haben derzeit circa 150 Augenzeugenberichte in allen bedeutenden Sprachen des Kontinents vorliegen, da Menschen überall in Piratenhände gefallen sind."

Den segelnden Banditen war nämlich meistens die menschliche Beute wichtiger als die Fracht. Gefangengenommene Reisende wurden entweder verkauft oder freigepresst – für Piraten ein lukratives Geschäft: So verpflichtete sich der Trinitarierorden vordergründig, christliche Sklaven auszulösen, die protestantischen Reeder in den Hansestädten wiederum unterhielten Vorsorgekassen allein für diese Fälle.

Multikulturelle Besatzung

Neben Flucht und Freikauf gab es in Nordafrika noch eine dritte Möglichkeit, der Gefangenschaft zu entkommen: die Konversion zum Islam. So erklärt sich auch, warum die Piratenschiffe derartig multikulturell besetzt waren. Europäische Konvertiten stiegen aufgrund ihrer Orts- und Nautikkenntnisse schnell in der Schiffshierarchie auf. Diese Renegaten stellen viele Heimkehrer in den Berichten als besonders brutal und mit dem Teufel im Bunde dar.

Klarer betont aber, dass die Piraterie im Mittelmeerraum kein ausschließlich muslimisches Geschäft gewesen sei. Ebenso wie auf den großen Sklavenmärkten in Algier und Tunis wurde auch auf der anderen Seite des Mittelmeers ein reger Menschenhandel betrieben. "Wir wissen von Freikauflisten nordafrikanischer Diplomaten, dass ungefähr genauso viele muslimische Gefangene in Europa gelandet sind."

Dass aber viel weniger Berichte von Muslimen vorlägen, erkläre sich aus einer weniger ausgeprägten Druckkultur im islamischen Raum zu dieser Zeit: Vieles existierte nur als Manuskript und ging mutmaßlich verloren. Durch die zentrale Rolle des Leidens in der christlichen Tradition legten zudem eher Heimkehrer dieser Konfession beredt Zeugnis von ihrem persönlichen Martyrium ab, was die Drucker bereitwillig vervielfältigten: Heimkehrerberichte verkauften sich seinerzeit sehr gut.

Auch die europäische Literatur der Neuzeit ist eine reiche Quelle: Frühe Klassiker wie Robinson Crusoe oder das Werk von Cervantes, selbst Gefangener in Nordafrika, sind unmittelbar mit den Themen Piraterie und Sklaverei verbunden. So konnte Klarer auch einen eigentlich literarischen Text als Heimkehrerbericht decodieren: Recherchen zu der Robinsonade eines gewissen Leonhard Eisenschmied aus Gurk offenbarten, dass es sich bei der Darstellung eines Seeräuberangriffs sehr wahrscheinlich um einen Tatsachenbericht handelt. In diesem Fall hätten die Piraten sogar einen Kärntner erwischt. 


Montag, 12. Juni 2017

Aus Englands dunkler Zeit.

Blick auf die prähistorische Steinallee von West Kennet bei Avebury. Ganz in der Nähe liegen die Reste der beiden hölzernen Kreisanlagen.
aus scinexx                                                                                                      Steinallee von West Kennet bei Avebury

"Feuerkreis" ist 800 Jahre älter als Stonehenge
Doppelter Palisadenkreis von Avebury stammt aus der "dunklen Ära" Englands 

Mysteriöses Monument: Zwei prähistorische Kreisanlagen nahe Avebury in England sind älter als bisher gedacht. Eine neue Radiokarbondatierung enthüllt, dass die beiden hölzernen Bauwerke bereits 5.300 Jahre alt sind – und damit rund 800 Jahre älter als das nahegelegene Stonehenge und die Steinkreise von Avebury. Erhalten sind von den beiden Palisadenkreisen nur verkohlte Reste, denn das Monument wurde von seinen Erbauern offenbar im Rahmen einer Zeremonie abgefackelt.

Der Steinkreis von Stonehenge ist das wahrscheinlich berühmteste prähistorische Bauwerk überhaupt. Doch diese Megalith-Anlage ist kein Solitär: Die gesamte Landschaft rund um Stonehenge ist von Grabhügeln, astronomisch ausgerichteten Gräben und weiteren rituellen Bauten durchsetzt. Im nahegelegen Durrington Walls entdeckten Archäologen neben den bekannten Siedlungsresten eine gigantische Steinreihe – eine Art Superhenge.

Rätselhafte Holzmonumente

Auch das 37 Kilometer von Stonehenge entfernte Avebury besitzt gleich mehrere Steinkreise und gehörte zum prähistorischen Zeremonialkomplex dieser Region. Bereits in den 1960er und -70er Jahren wurden im nahegelegenen West Kennet die Überreste zweier hölzerner Kreisanlagen entdeckt. Sie bestanden aus kreisförmigen Gräben, in die aufrechte Holzpalisaden eingelassen waren. Zusammen bilden die beiden Kreise eine vier Kilometer große Anlage. 


West Kennet, Silbury Hill

Seltsam jedoch: Ausgrabungen in den Kreisgräben förderten nur verkohlte Holzreste zutage. Archäologen vermuten, dass die Palisadenkreise von Avebury nur kurze Zeit bestanden und vielleicht sogar explizit dafür erbaut wurden, um in einer Feuerzeremonie wieder verbrannt zu werden. "Diese Anlage ist völlig anders als alles, was wir sonst aus der Vorgeschichte Großbritanniens kennen", sagt Alex Bayliss von Historic England.

Aus der "dunklen" Ära

Und noch etwas überrascht: Bisher galten die Kreisanlagen von West Kennet als ungefähr so alt wie Stonehenge. Erste Radiokarbondatierungen in den 1980er Jahren datierten die verkohlten Palisadenreste auf ein Alter von rund 4.500 Jahren. Jetzt jedoch haben Archäologen unter Leitung von Alasdair Whittle von der Cardiff University die Überreste mit Hilfe moderner Methoden erneut datiert.
 

Das überraschende Ergebnis: Die West Kennet Enclosures sind rund 5.3000 Jahre alt und entstanden demnach bereits rund 800 Jahre vor Stonehenge. Das Spannende daran: Die Kreisanlagen stammen damit aus einer "dunklen" Ära der britischen Vorgeschichte – einer Zeit, aus der bisher kaum Überreste bekannt sind. "Es gibt jede Menge Funde aus der Zeit 700 Jahre davor und 700 Jahre danach, aber so gut wie nichts aus der Zeit dazwischen", erklärt Bayliss.


Eingangssteine des Long Barrow - dem Hügelgrab von West Kennet

Bedeutend schon Jahrhunderte vor Stonehenge

Die neue Datierung belegt, dass die Region rund um Stonehenge und Avebury schon ein knappes Jahrtausend vor Errichtung der berühmten Steinkreise eine große rituelle Bedeutung für die Bewohner der Region gehabt haben muss. Darauf deutet auch ein Hügelgrab hin, das ganz in der Nähe der beiden neudatierten Palisadenkreise liegt. Das West Kennet Long Barrow wurde rund 400 Jahre vor Stonehenge errichtet.

Die Archäologen entdeckten zudem Reste einer prähistorischen Siedlung direkt neben den Palisadenkreisen, die aus der Zeit um 2500 vor Christus stammt – und damit aus der Zeit von Stonehenge. Der geheimnisvolle Hügel von Silsbury Hill, der nur wenige hundert Meter entfernt liegt, wurde ebenfalls in dieser Periode errichtet - möglicherweise von den Bewohnern dieser Siedlung. (British Archaeology, 2017)

(Livescsience/ British Archeology, 12.06.2017 - NPO)
West Kennet, Avebury

Mittwoch, 7. Juni 2017

Domestikation und Ökonomisierung.

aus Die Presse, Wien,

Die Menschen werden immer klüger – und zahmer
Intelligenztests brachten stetig bessere Ergebnisse bei Rekruten. Nun stellt man den „Flynn-Effekt“ auch im Charakterlichen fest: Verstärkt werden Züge, mit denen man es zu etwas bringt.

 

Bis vor Kurzem ist die Menschheit immer klüger geworden, zumindest hat sie in IQ-Tests, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, kontinuierlich besser abgeschnitten, um drei Punkte pro Jahrzehnt. Das fiel dem Politologen James Flynn 1984 auf, es wurde nach ihm benannt. Erklärt ist es bis heute nicht, und das, obgleich die US-Psychologen es als „eines der bemerkenswertesten Phänomene“ identifizierten und 1996 ihre „Task Force for Intelligence“ darauf ansetzten. Klar ist nur, dass nicht alles gleich schnell geht: „Kristallisierte Intelligenz“ – bei der es um Sachwissen geht – kommt weniger voran als „flüssige“, in der etwa Zahlenreihen wie 2, 4, 16 fortgesetzt werden müssen.

Was steht dahinter? Es gibt nur Hypothesen, physische Faktoren wie die Ernährung wurden erwogen – die Menschheit ist im gleichen Zeitraum auch in ihrer Körperlänge gewachsen –, soziale natürlich, von steigenden Einkommen bis zu schrumpfenden Familien, und die Umwelt hat sich auch verändert, etwa die Technik, die permanent mehr Anforderungen an die Kraft des Gehirns stellt (und weniger an die des Körpers).

Das Rätsel blieb, nun wird es noch ein wenig größer: Der Effekt, den man bisher nur in der Intelligenz sah, hat sich nun auch breit in Charaktereigenschaften gezeigt, mit denen man es in Ökonomien kapitalistischen und Gesellschaften westlichen Zuschnitts zu etwas bringt: Das Selbstbewusstsein ist gestiegen, die Sozialkompetenz auch, Führungs- und Leistungsbereitschaft sind es ebenso, dafür ging der Widerspruchsgeist zurück, Gehorsam machte sich breiter.

„Ökonomisch wertvolle Spuren“

All das sah Matti Sarvimäki, Ökonom an der Universität von Helsinki, als er ein singuläres Archiv erschließen konnte, das des finnischen Militärs. Bei dem gibt es Eingangstests für IQ und Charakter, Sarvimäki hat die der Geburtsjahrgänge 1962 bis 1976 ausgewertet – insgesamt 419.523 Rekruten –, er sah in dieser Zeit den Trend einer „säkularen Erhöhung von ökonomisch wertvollen Persönlichkeitsspuren“, der sich dann auch in erhöhten Einkommen umsetzte (Pnas 5. 6.).

Fest steht dieser Trend allerdings nur für Männer, und zwar für die, die zum Militär gehen. Frauen tun das in Finnland nicht, auch nicht alle Männer tun es, andere ziehen den Friedensdienst vor. Man weiß auch nicht, wie lange der Trend anhält, beim Flynn-Effekt hat man zuletzt Hinweise auf eine Umkehrung gefunden, beim Längenwachstum auch, vor allem in den USA.

Aber auch mit diesen Einschränkungen bleibt das Rätsel, Sarvimäki vermutet partiell die steigende Bildung der Eltern dahinter und die schwindende Größe der Familie. Die muss allerdings gesund sein, wenn die Kinder es bleiben sollen: Michael Murphy (Carnegie Mellon) hat erwachsene Freiwillige ins Labor gebeten und sie mit Schnupfen infiziert (Pnas 5. 6.). Der traf die hart, die als Kinder erleben mussten, dass ihre Eltern nach einer Scheidung kein Wort mehr miteinander sprachen. Taten sie es doch, waren die Kinder im späteren Leben so gefeit wie die aus funktionierenden Familien.


Nota. - Dass sich Eigenschaften verstärken, die einen Selektionsvorteil bieten - wen wird das wundern? In dem Maße aber, wie die Tugenden der Arbeitsgesellschaft demnächst weniger gefragt sein werden als das Tempera- ment eines Spielers, werden Angepasstheit und Schleimerei wieder aus der Mode kommen.
JE



Sonntag, 4. Juni 2017

Am Ursprung der Geldwirtschaft.


Antike griechische Münze
aus Die Presse, Wien
Der große Wert der kleinasiatischen Münzprägung
Griechen und Lyder Kleinasiens prägten im siebenten Jahrhundert v. Chr. die ersten Münzen des Mittelmeergebiets aus Gold-, Silber- und Kupfermischung. Die Münzen dienten nicht zum Warentausch, sondern als Sold.

Soldaten gehörten zu den mobilsten Menschen der antiken Welt. Verließen sie für Jahre ihr Land, dann meist, weil ihnen kein zu bewirtschaftender Grundbesitz zur Verfügung stand. Ihr Sold musste folglich reizvoll sein. Schließlich wollten sie, vom Krieg zurückgekehrt, Ländereien kaufen und beackern. Lyder (im Gebiet der heutigen Türkei) und Griechen begannen im siebten Jahrhundert v. Chr., Münzen zu prägen, deren Wert so hoch war, dass sie beim täglichen Handel unbrauchbar ware

„Die Münzen dienten nicht dazu, auf dem Markt Brot oder Kohle zu kaufen“, sagt Wolfgang Fischer-Bossert vom Institut für Kulturgeschichte der Antike der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die älteste Münzprägung im Mittelmeerraum war eine „high value currency“, eine Währung mit sehr hohem Wert. Fischer-Bossert untersucht diese Währung im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Kleinasien und die Geburt des Münzgeldes“ erstmals flächendeckend. Das Problem für die Forschung ist, dass die Münzen kostbar waren und sind. Daher liegen die Prägeserien weltweit verstreut in Privatsammlungen oder großen Museen in New York, Berlin, Paris, London, Athen und Wien. Die wertvollsten Münzen, Statere, werden von Sammlern nur widerwillig der Forschung zur Verfügung gestellt.

Fischer-Bossert durchforstet daher vor allem die Bestandskataloge der Museen, die allerdings nicht immer vollständig sind. Die Forschungsarbeit am Standort Paris ist bereits so gut wie abgeschlossen. Die dortigen Münzen sind numismatisch und metallurgisch analysiert. Die Ergebnisse sollen demnächst in Fachjournalen publiziert werden.

Wien ist Weltzentrum

In Wien hat der gebürtige Deutsche ein gutes Basislager für seine Forschung aufgeschlagen, denn hier sei „eines der Weltzentren der Numismatik mit einer jahrhundertelangen Tradition“. Dass die Münzprägung gerade in der antiken Landschaft zwischen Ionien, mit den bedeutenden Städten Ephesos und Milet, und Lydien mit dessen Hauptstadt, Sardes, entlang der Westküste Kleinasiens (heute Türkei) entstanden ist, beruht darauf, dass hier eine entscheidende Kontaktzone der antiken Welt war: Zwei politische Entitäten standen auf engem Raum im regen kulturellen Austausch.

Die Münzen zeigen auf einer Seite meist figürliche Darstellungen, Tiere, Pflanzen oder geometrische Formen. Die Rückseite blieb leer. Diese ist lediglich mit Punzeinschlägen gekennzeichnet, die ihr Gewicht markiert haben. Das Material besteht aus einer Gold-, Silber- und Kupfermischung. Diese Legierung heißt in der Fachsprache Elektron. Der etwa zwei prozentige Kupferanteil macht die Münze härter als eine reine Gold- oder Silbermünze. Die Legierung war kein Notbehelf, wie bislang von den Forschern angenommen. Die Griechen und Lyder schufen mit der Elektronmünze eine stabile Währung, die sich nicht so schnell abnutzte wie Goldmünzen und länger zirkulieren konnte.

Die Münzprägung veränderte den wirtschaftlichen Alltag nicht radikal, sondern evolutionär. Erst allmählich akzeptierten die antiken Händler Münzen als Zahlungsmittel. Der Tauschhandel blieb lang bestehen. Doch wegen der wachsenden Akzeptanz fing man an, kleinere Zahlungswerte, zumeist aus Silber, herzustellen. Das führte schließlich zur Explosion von Kleinwerten, die bis hinunter zu den heute verwendeten Bronzemünzen reichen. (por)


Nota. - Nicht zu vergessen, dass die römische Republik ihre Soldaten zuerst mit Salz - sal - bezahlte; Salaire und Salariat stammen daher.
JE


 

Freitag, 2. Juni 2017

Droht in Südafrika "der wahre Zuma"?

aus Der Standard, Wien, 1. Juni 2017, 17:14 

Korruptionsvorwürfe gegen Zuma und Gupta-Familie in Südafrika 
Unternehmerfamilie, die dem Präsidenten nahesteht, soll bei staatlichen Aufträgen hunderte Millionen Euro abgezweigt haben



Sollten bislang noch ein paar Puzzlestücke gefehlt haben, so ist das ganze Ausmaß des Morasts jetzt endgültig zum Vorschein gekommen. Nelson Mandelas Regenbogenstaat wird von einer Kabale beherrscht, die Staatspräsident Jacob Zuma gemeinsam mit einer indischstämmigen Unternehmerfamilie, den Guptas, sowie einigen Dutzend Eingeweihten in hohen Positionen schmiedete: Zigtausende E-Mails, die südafrikanischen Enthüllungsjournalisten zugespielt worden sind, haben das finstere Bild jetzt komplettiert.

Die am Donnerstag unter dem Titel "Gupta-Leaks" in dem angesehenen Online-Dienst "Daily Maverick" veröffentlichten Auswertungen eines Teils des elektronischen Briefverkehrs machen deutlich, wie die mit Zuma befreundete Gupta-Familie eine Parallelregierung errichtet und die Steuerzahler um Milliarden Rand betrogen hat. Die Bürger Südafrikas mussten für vom staatlichen Eisenbahnkonzern Transnet unter dubiosen Bedingungen erworbene Lokomotiven offenbar hunderte Millionen Euro mehr bezahlen, um die Gupta-Familie reich zu machen – während der Stromkonzern Eskom dafür sorgte, dass Gupta-Firmen Aufträge in Millionenhöhe zukamen.

Gleichzeitig wurden in südafrikanischen Botschaften in Indien Erfüllungsgehilfen platziert, um Gupta-Vertrauten regelwidrig Visa- oder gar Staatsbürgerschaftsurkunden auszuhändigen. Erstmals wird auch deutlich, wie tief der von Zuma erst kürzlich gegen den Widerstand von Teilen seiner eigenen Partei zum Finanzminister ernannte Malusi Gigaba in die Machenschaften verwickelt ist: Als Minister für Staatsunternehmen war er am Transnet-Deal beteiligt und als Innenminister zuständig für Konsular-Angelegenheiten.

Lukrative Lokomotive

Schon seit geraumer Zeit ist klar, dass die Guptas hinter zahlreichen Personalentscheidungen des Präsidenten standen: Die Vertrauten der drei Brüder wurden sowohl ins Kabinett wie in die höchsten Managementetagen und Aufsichtsgremien von Staatsunternehmen gehievt. Das skandalöseste Detail der Machenschaften fiel den Journalisten im Zusammenhang mit Transnet in die Hände: Die E-Mails belegen, dass die Gupta-Firma Tequesta Group Ltd vor zwei Jahren 21 Prozent des Kaufpreises von 554 elektrischen Lokomotiven abzweigte – ausschließlich für die Vermittlung des Deals, und ohne dafür irgendwelche Dienstleistungen zu vollbringen. Diese 21 Prozent aus dem Vertrag mit dem chinesischen Hersteller China South Rail (CSR) machten umgerechnet mehr als 320 Millionen Euro aus.

Zumindest einen Teil ihrer Beute wussten die drei Gupta-Brüder ins Ausland zu retten: Im teuersten Stadtteil Dubais, den Emirates Hills, erwarben sie sich ein Anwesen für 331 Millionen Rand (rund 23 Millionen Euro) mit zehn Schlafzimmern, zwölf Bädern, neun Empfangsräumen und einem großen Tresor. Auch Zumas Sohn Duduzane, der als Direktor mehrerer Gupta-Firmen fungiert, legte sich in Dubai Grundbesitz zu – in Form einer Wohnung im zweithöchsten Gebäude der Welt, dem Burj Khalifa, für umgerechnet 1,25 Millionen Euro. Bereits am Wochenende waren südafrikanischen Zeitungen E-Mails zugespielt worden, in denen Präsident Zuma den Emir von Dubai davon unterrichtete, dass er Dubai zu seiner "zweiten Heimat" machen wolle und in Emirates Hills bereits ein Anwesen erworben habe. Zuma bestritt inzwischen, eine derartige Mail jemals geschrieben zu haben oder ein Haus in Dubai zu besitzen.

Der "wahre Zuma"

Bereits seit Monaten fordern Kritiker Zumas Rücktritt: Zuletzt sah sich der ANC-Präsident am Wochenende mit einem Misstrauensantrag im höchsten Gremium seiner Partei konfrontiert. Der Öffentlichkeit zugespielten Informationen zufolge reagierte er mit Drohungen: "Schubst mich nicht zu weit, sonst bekommt ihr den wahren Zuma zu sehen", soll er am Ende einer 90-minütigen Verteidigungsrede gesagt haben, in der er außerdem "westliche Kräfte" für die Kampagne gegen ihn verantwortlich gemacht habe.

Politische Beobachter sehen das Kap der Guten Hoffnung nach den Gupta-Leaks in eine labile Phase treten. "Das sind die letzten Tage von Zuptastan"*, schreibt der Kolumnist Adriaan Basson: "Und wie ein verletztes Tier ist Jacob Zuma jetzt am gefährlichsten." 

*) =Zuma/Guptastan






Donnerstag, 1. Juni 2017

Luftverschmutzung seit zweitausend Jahren.

aus scinexx                                                                          Der Colle Gnifetti in den Alpen

Europa: Luftverschmutzung schon seit 2.000 Jahren
Erhöhte Bleiwerte schon lange vor der industriellen Revolution nachweisbar

Dicke Luft: Der Mensch verpestet die Luft über Europa schon seit mindestens 2.000 Jahren mit Blei – und wahrscheinlich auch anderen Schadstoffen. Das belegt jetzt die Analyse eines Eisbohrkerns aus den Alpen. Entgegen bisherigen Annahmen begann damit die Luftverschmutzung schon lange vor der industriellen Revolution. Die einzige deutliche Pause gab es um das Jahr 1350 – als die Pest halb Europa dahinraffte.

Neben "klassischen" Luftschadstoffen wie Stickoxiden, Feinstaub oder Ozon, atmen wir auch mit der Luft auch winzige Mengen Blei ein. Dieses Schwermetall gilt als extrem giftig, denn es kann schon in kleinsten Dosen das Nervensystem schädigen und die Fortpflanzung stören. Vor allem bei Kindern kann eine schleichende Vergiftung mit Blei zu Verhaltensstörungen und mentalen Defiziten führen.
 

Ab wann die Bleibelastung der Luft jedoch als erhöht gilt und wo der natürliche, vom Menschen unbeeinflusste Bleigehalt der Atmosphäre liegt, war bisher unbekannt. Unter anderem deshalb nutzten Wissenschaftler und Behörden bisher die Bleiwerte vor der Industrialisierung als Referenzwert – in der Annahme, dass es damals noch keine Bleiemissionen durch den Menschen gab.

Eisbohrkern als Bleianzeiger

Jetzt enthüllen Alexander More von der Harvard University und seine Kollegen, dass diese Annahme falsch ist. Für ihre Studie hatten sie einen Eisbohrkern aus dem Colle Gnifetti Gletscher im italienischen-schweizerischen Grenzgebiet der Alpen entnommen. Der 72 Meter lange Bohrkern liefert Eis aus rund 21.000 Jahren europäischer Geschichte Mit dem im Laufe der Zeit abgelagerten Schnee und der darin enthaltenen Luft hat der Eisbohrkern auch die atmosphärischen Bleigehalte der letzten 2.000 Jahre konserviert. Mit Hilfe von lasergestützten, hochgenauen Massenspektrometer-Analysen gelang es den Forschern, die Bleibelastung bis auf das Jahr genau zu rekonstruieren.

Verschmutzt schon seit 2.000 Jahren

Das überraschende Ergebnis: "Die neuen Daten zeigen, dass die europäische Luft der letzten 2.000 Jahre nahezu ununterbrochen mit Blei aus menschlicher Aktivität verschmutzt wurde", berichten die Forscher. Schon lange vor der industriellen Revolution waren demnach die Bleiwerte der Luft messbar erhöht. Quellen des Schwermetalls war vor allem der Erzabbau, aber auch die Metallverarbeitung.

 

"Unsere Ergebnisse zeigen, dass das, was wir für die natürliche Hintergrundbelastung durch Blei hielten, in Wirklichkeit ebenfalls anthropogenen Ursprungs ist – und das schon seit 2.000 Jahren", konstatieren More und seine Kollegen. "Das hat weitreichende Bedeutung für aktuelle Politikentscheidungen in Umwelt, Industrie und öffentlicher Gesundheit."

 
Bleiwerte der Luft in der Zeit vom Jahr 1 bis 2007 - das Absacken während der Pest-Pandemie ist klar zu erkennen.
Kollaps durch den "Schwarzen Tod"

Den Beleg dafür, dass die gemessenen Bleiwerte tatsächlich aus menschlicher Aktivität stammen, lieferten die Bohrkerndaten für die Jahre 1349 bis 1353. Denn in dieser Zeit sackten die Messwerte abrupt auf Werte unter der Nachweisgrenze und damit nahezu Null ab. "Als wir das Ausmaß dieses Absinkens sahen – und das nur ein einziges Mal in den gesamten 2.000 Jahren - waren wir fasziniert", sagt More.


Ein Blick in die Geschichte enthüllt die Ursache für die plötzliche "Bleipause": In dieser Zeit grassierte in Europa die Pest. Der "Schwarze Tod" raffte ein Drittel bis knapp die Hälfte der Bevölkerung dahin und brachte nahezu alle wirtschaftlichen Aktivitäten zu Erliegen – und damit auch den Abbau und die Verarbeitung von Blei und anderen schwermetallhaltigen Erzen. Als Folge sank auch die Bleibelastung der Luft auf nahezu null. Weitere, weniger ausgeprägte Senken in den Bleiwerten gab es im Jahr 1460, in der eine weitere Epidemie die Wirtschaft und damit die Bleinachfrage schwächte, und im Jahr 1885, bedingt durch eine starke Wirtschaftskrise.


Wahre Hintergrundbelastung ist fast Null

Die Messwerte aus der Zeit der Pest-Pandemie belegen, dass trotz des Vorhandenseins von Blei in der Erdkruste von Natur aus kaum etwas davon in die Luft gelangt, wie die Forscher erklären. Ohne den menschlichen Einfluss liegt die natürliche Bleibelastung der Luft demnach fast bei Null – und nicht bei den bisher als natürlich angesehenen präindustriellen Werten.

 
"Die neuen Messungen bedeuten einen signifikanten Wandel in unserem Verständnis der atmosphärischen Bleibelastung", sagen die Forscher. "Denn das, was bisher als natürlicher Hintergrund galt und daher als gesundheitlich unbedenklich, war nicht natürlich. Es widerspricht auch unserer Annahme, dass vorindustrielle Bleiwerte keinen Effekt auf die menschliche Gesundheit hatten – weil sie natürlich waren." (GeoHealth, 2017; doi: 10.1002/2017GH000064)

(American Geophysical Union, 01.06.2017 - NPO)