Sonntag, 28. Februar 2016

Kurs halten und nicht ins Bockshorn jagen lassen.



Die FAZ berichtete in ihrem Live-Blog über Angelas Merkels Auftritt heute Abend bei Anne Will.

Die beiden wichtigsten Zeilen:

"Es ist eine wichtige Zeit, in der sich entscheiden wird, wie Deutschland in Europa dastehen wird."

"Werden Sie umsteuern, Frau Merkel?" - Klare Antwort: "Nein."

Fazit des FAZ-Redakteurs:

"Wer erwartet hätte, dass Merkel heute Abend einknickt und eine große Kursänderung verkündet: Fehlanzeige, sie weicht bislang keinen Millimeter von ihrer Agenda ab."

Und eben stellt er in FAZ.NET seinen Kommentar ein; der Kernsatz:

"Bei Anne Will präsentierte sich die Kanzlerin, der in der Euro-Krise noch mancher vorgeworfen hatte, es mit der europäischen Solidarität nicht allzu ernst zu meinen, als weitsichtige Leitfigur des Kontinents, die in ihrer größten Bewährungsprobe zugleich die eigentliche Mission ihrer Kanzlerschaft gefunden hat: die Lordsiegel-bewahrerin der europäischen Einigungsidee zu sein." 

*

Eine wirklich schlechte Meinung hatte ich eigentlich nie von der Merkel. Aber das hätte ich ihr niemals zu-getraut, da bin ich wohl nicht der einzige. Ein Glück, dass ich weder in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz noch Sachsen-Anhalt wohne. Wen könnte ich dort wählen, um für Merkels Flüchtlings- und Europapolitik zu stimmen? CDU ja wohl nicht.




Samstag, 27. Februar 2016

Unsre Identität.


Ein Volk, das solche Schuld auf sich geladen hat, muss sich für die nächsten tausend Jahre um seine Identität keine Sorgen machen. 

Einen guten Deutschen erkennt man daran, dass ihm weniger davon lieber wäre. Die schlechten Deutschen erkennt man daran, dass sie sie in Frage stellen.

Und wer zu uns kommt, muss sich gut überlegen, ob er im Ernst dazugehören will. Sonst sollte er weiterziehen.





Dienstag, 23. Februar 2016

Wie sich das Christentum durchgesetzt hat.

Kaiser Konstantin (r.) vor Papst Silvester I. 
aus Badische Zeitung, 17. 2. 2016

Mehr Kreuz als Krippe
"Ein neuer Gott für die alte Welt" – Manfred Clauss hat die Geschichte des frühen Christentums erforscht.

von Christine Adam

Da sollte man sich nichts vormachen: Die Frühgeschichte des Christentums, dieser Religion mit dem Potenzial der Nächstenliebe und der Friedfertigkeit, ist eine Geschichte der Gewalt, der gegenseitigen Abgrenzung, des Sieges des Stärkeren. Aus der Perspektive des Historikers ist da mehr Kreuz als Krippe. Manfred Clauss, dieser Antikenspezialist, attestiert sogar dem direkten Umfeld des jüdischen Wanderpredigers Jesus einen Modus der Aggressionsbereitschaft. Zum Hintergrund der Bibeltexte trägt der emeritierte Frankfurter Professor gleichwohl nichts wirklich Neues bei – die Datierung von Christi Geburt im Lukas-Evangelium ist interessengeleitet, die Apostelgeschichte zeichnet ein allzu perfektes Paulus-Bild. Doch weil bei den Glaubenstexten des Neuen Testaments, den Erzählungen über den Beginn des Christentums aus einer jüdischen Sekte, mit der ihnen eigenen Mischung von Historizität, Traditionen und Kalkül spätere Konflikte angelegt sind, ist hier der analytische Blick vonnöten.

Es geht schließlich um Religion, und um die wurde mit Leidenschaft gefochten. Und zwar im Wortsinn. Oftmals scheint es, als sei "Kampf" das Lieblingswort des Autors. Wobei der Mensch im antiken Imperium Romanum, der vorchristliche Heide, das Thema angesichts eines Großangebots an Göttern und Kulten entspannter sehen konnte, solange dem Kaiserkult mit den entsprechenden Opfern Genüge getan wurde. Dem setzten die Christen ihren ausschließlichen Wahrheitsanspruch entgegen. Clauss diagnostiziert gar eine "Inflation des Wahren". In der heute gebräuchlichen Fassung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses wird Christus als "wahrer Gott vom wahren Gott" bezeichnet. Spätestens als dann über das Diasporajudentum hinausgehend die Heidenmission einsetzte, konnte die anfänglich apodiktische Abgrenzung gegenüber dem Aberglauben nicht durchgehalten werden.

Der Wissenschaftler dechiffriert die christliche Religion, wenn er zeigt, wie Denkstrukturen übernommen, Heidnisches christlich besetzt wurde. Der als Sonnengott verehrte Kaiser Konstantin, der den christlichen Gemeinden ein Körperschaftsrecht zugestand – Manfred Clauss spricht von privilegierten Vereinen – definierte im Jahr 321 den Sonnentag als gesetzlichen Ruhetag. Christus als Sonne der Gerechtigkeit – dieses Sprachbild und unser Sonntag gehen auf die antike Sonnenverehrung zurück. Der Begriff des Opfers, die Vorstellung vom Himmel als Ort der unsterblichen Seele: Der ebenfalls als Theologe profilierte Autor sieht die Annäherung ans Heidentum jedenfalls positiv, denn sie "erweiterte die Möglichkeiten christlicher Existenz".

Auch für den Althistoriker gilt die Feststellung "Only bad news are good news", denn vor allem Meinungsver-schiedenheiten, Konflikte evozierten das Schrifttum. Und die heidnische wie die christliche Bildungselite der Spätantike waren ebenso streitbare wie schreibfreudige Zeitgenossen. Das fokussiert den Blick auf die Durch-setzungsprozesse, seien sie nun diskursiver oder militärischer Art, gegen Heiden oder andersdenkende Christen. Clauss wuchert im Buch mit dem Pfund seiner immensen Kenntnis der antiken Texte, lässt den Leser daran teilhaben. Er geht dabei nicht immer chronologisch vor – statt mancher ausführlichen Zitate würden mannhaft zusammenfassende Sätze die Lektüre mitunter erleichtern.

Der Leser wird in die Welt des frühen Christentums mit ihren Idealen der Askese und Keuschheit hineinge-nommen. Auf dass die Frauen die Sittlichkeit der Männer nicht gefährdeten, hatten sie sich in der Gemeinde zu verschleiern. Sittsamen Jungfrauen war der bessere Platz im Himmel verheißen – nur noch die Märtyrer konnten sie übertreffen. Wobei Clauss die Christenverfolgungen durch den römischen Staat mit dem Argument der in den Quellen genannten Zahlen schlichtweg zum Mythos, ja zur Geschichtsfälschung erklärt. Doch es gab eben auch so jenseitssüchtige wie -hysterische Zeitgenossen, die sich aus freien Stücken beim Statthalter als Christen anzeigten, um sich dann in der Arena von wilden Tieren ins Paradies befördern zu lassen. Zur Marotte gerät die Suggestion, just Christen hätten den Brand Roms im Jahr 64 gelegt. Hier argumentiert der ansonsten so penible Historiker mit der Feuer- und Brandmetaphorik theologischer Texte.

Das Buch erzählt die Durchsetzung des Christentums mit den Mitteln von Politik und Gewalt zur Mehrheitsreligion am Ende des römischen Reiches. Die christlichen Kaiser fürchteten bei religiösen Streitigkeiten die Gefahr des öffentlichen Aufruhrs. Häretiker wurden kriminalisiert. Die Dynamik der trinitarischen und christologischen Kontroversen unter Konstantin oder später im Osten des Reiches interessiert den Verfasser in ihrem Zusammenwirken mit der herrschenden Macht. Die theologischen Diskussionen mit den ihnen – auch vergebenen – inhärenten Chancen hätten durchaus einen anderen Blickwinkel verdient.

Mit der zunehmenden Etablierung des Christentums als Reichsreligion ging die Bekämpfung der heidnischen Kulte einher. Ende des vierten Jahrhunderts begannen tätliche Angriffe auf heidnische Tempel, die Vernichtungswut steigerte sich in eine bis dahin menschheitsgeschichtlich einmalige "Orgie der Zerstörung", wie Clauss urteilt. Auch jüdische Synagogen wurden verwüstet, der Antijudaismus wurde zum christlichen Konsens.

In Sachen Toleranz hat die Äußerung eines – christlichen – Andersdenkenden allerdings nichts an Aktualität eingebüßt: "Warum erlaubt ihr nicht, dass jeder seinem freien Willen folgt, da doch Gott der Herr selbst den Menschen den freien Willen gegeben hat?"

Manfred Clauss: Ein neuer Gott für die alte Welt. Die Geschichte des frühen Christentums. Verlag Rowohlt, Berlin 2015. 544 Seiten, 34,95 Euro.


Nota. - Wieso Konstantin das Christentum anstelle des Sol-invictus-Kults zur römischen Staatsreligion erhoben hat, mag ewig unklar bleiben: Es ist kein wirklich historisches Thema. Ein historische Problem ist vielmehr, wie und wieso es sich im ganzen Reich, von Ost nach West, als solches durchsetzen konnte; und sich auch noch die germanischen Völker unterwarf, die seine Trümmer einsammelten! Ob das Buch zu dieser Frage etwas beiträgt, erfahren wir von der Rezensentin nicht.

Ihr sei übrigens geraten, an ihrem Schreibstil zu arbeiten. Schlichter ist besser, zumal in einer Tageszeitung.
JE

Montag, 22. Februar 2016

Religion ist das, was verbindet.

Sorgte erst der Glaube an einen strengen Gott für Kooperation in den frühen Gesellschaften?
aus scinexx

Strafender Gott als kulturelle Triebkraft?
Religion könnte die Entwicklung der ersten Zivilisationen gefördert haben

Religion als Sozialkitt? Der Glaube an eine allwissende, strafende Gottheit könnte unseren Vorfahren die Bildung erster Zivilisationen erleichtert haben. Denn diese religiöse Überzeugung fördert die Kooperation mit Unbekannten gleichen Glaubens, wie ein Experiment mit Menschen aus acht verschiedenen Kulturen belegt. Der Glaube könnte damit den Übergang von Familienclans zu großen, komplexen Gesellschaften gefördert haben, wie Forscher im Fachmagazin "Nature" berichten.

Glaube und Religion sind nicht nur Privatsache, sie beeinflussen auch, wie wir mit anderen umgehen und prägen damit unsere Gesellschaften. Gleichzeitig beeinflusst die Umwelt, welches Gottesbild in einer Kultur dominiert. Ob umgekehrt der Glaube vielleicht auch eine Triebkraft bei der Entstehung der ersten Zivilisationen war, darüber spekulieren Forscher schon seit längerem.

Vom Familienclan zur anonymen Masse

Denn unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren lebten ursprünglich in kleinen, überschaubaren Familienclans zusammen - jeder kannte jeden. Das aber änderte sich mit der Bildung größerer, komplexerer Gesellschaften. Jetzt gehörten auch weit entfernt lebende Fremde plötzlich dazu und forderten Hilfe, Vertrauen und Kooperation ein – eine ganz neue Situation.


In dieser Situation, so die Hypothese, könnte die Religion eine Schlüsselrolle gespielt haben – indem sie Fremde zu Glaubensgenossen und damit zu vertrauenswürdigen Clan-Mitgliedern machte. "Der Glaube an moralische, strafende und allwissende Götter könnte die Ausdehnung der Kooperation, des Vertrauens und der Fairness auch auf entfernte Glaubensgenossen gefördert haben", erklären Benjamin Grant Purzycki von der University of British Columbia und seine Kollegen.

Grimmiger oder gütiger Gott? Totempfahl auf Sumatra
Totempfahl auf Sumatra

Münzen für den Fremden

Ob diese Hypothese stimmt, haben die Forscher mit einem Spielexperiment mit 591 Menschen aus acht ganz verschiedenen Kulturen untersucht. Die Teilnehmer reichten von Jägern und Sammlern in Tansania über Viehzüchter und Bauern in der Südsee und Brasilien bis zu Angehörigen von Kulturen mit Lohnarbeit in Sibirien oder auf Mauritius. Unter den Religionen waren Christentum, Hinduismus und Buddhismus ebenso vertreten wie der Glaube an Natur- oder Ahnengeister.

Alle Probanden bekamen die gleiche Aufgabe: Sie sollten eine bestimmte Geldsumme zwischen einem Topf für einen entfernten, ihnen unbekannten Religionsgenossen und einem Topf für sich selbst oder ein lokales Mitglied ihrer Religion aufteilen. Alle Teilnehmer wurden zudem eingehend über ihre Glaubensvorstellungen befragt.

Strenger Gott – kooperative Gläubige

Und tatsächlich: Die Art der Religion beeinflusste, wie kooperativ und sozial die Teilnehmer handelten. "Je stärker die Teilnehmer ihre Götter als strafend und als allwissend beschrieben, desto mehr Münzen teilten sie dem geografisch entfernten, ihnen fremden Religionsgenossen zu", berichten Purzycki und seine Kollegen.

Allein der Glaube, dass der moralische Gott straft, wenn man seinen Geboten nicht gehorcht, führte dazu, dass der entfernte Glaubensgenosse knapp fünfmal mehr Münzen erhielt als bei Teilnehmern, die nicht an einen strafenden Gott glaubten. Die Aussicht auf eine göttliche Belohnung schien dagegen wenig Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft zu haben, denn sie bewegte die Teilnehmer nicht dazu, dem fremden Mitgläubigen mehr zu geben, wie die Forscher berichten.

"…wohl der machtvollste Mechanismus"

Nach Ansicht der Wissenschaftler bestätigt dies die Hypothese, dass die Religion eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der frühen Gesellschaften gespielt haben könnte. Denn der Glaube an einen moralischen, strafenden Gott förderte den Zusammenhalt selbst großer, eher anonymer Gruppen. "Er verstärkt das faire Verhalten gegenüber entfernten, fremden Mitgläubigen und trägt damit zu einer Expansion des prosozialen Verhaltens bei", so Purzycki und seine Kollegen.

Dominic Johnson von der University Oxford sieht dies in einem begleitenden Kommentar ähnlich: "Religion ist wohl der machtvollste Mechanismus, den Gesellschaften gefunden haben, um Menschen zu einem gemeinsamen Zweck zu verbinden", so der Politikwissenschaftler. "Es gibt kaum Zweifel an der Macht der Religion, wenn es darum geht, Loyalität zu einem Gott und zur eigenen Gruppe zu fördern." (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature16980)

(Nature, 11.02.2016 - NPO)


Nota. - Lat. religio heißt Bindung, Verbindung. Für die totemistischen "Naturreligionen" ist der Ausdruck daher gar nicht passend, denn sie 'binden' nur die Clans, die ohnehin schon verwandtschaftlich verbunden sind; von allen Andern aber scheiden sie. - Wie war es denn möglich, dass die nordamerikanischen Indianer während ihres jahrhundertelangen Kampfes gegen die weißen Eindringlinge zu keinem Zeitpunkt die Vorstellung entwickelt haben, sie stünden gemeinsam ein und demselben Feind gegenüber? In ihrer Vorstellungswelt gab es zu vieles, das trennte, und zu wenig, das verband.
JE

Samstag, 20. Februar 2016

Konsensfindung und Vernunfturteil.

arcor

Vernunft kann nur herrschen, wo Öffentlichkeit ist. Sie ist das allgemeinste Verständigungsmittel. Ohne sie kann es keine Gesellschaft geben, die auf dem Verkehr aller mit allen beruht.

Mit andern Worten, Vernunft ist der ausgezeichnete Charakter von Unserer Welt. Ihr sinnfälligster Ausdruck ist die Wissenschaft, in der die bürgerliche Gesellschaft ihr oberstes Maß erkennt.

Hat also Vernunft in Meiner Welt nichts zu suchen?


Das Unterscheidungsmerkmal ist, auf welchem Weg typischerweise Entscheidungen zustande kommen: durch Übereinkunft oder durch Vernunfturteil. Vernunft fragt nach Gründen, das Vernunfturteil beruht auf dem prozessierenden Ausscheiden des Falschen: desjenigen, dessen Gründe der öffentlichen Kritik auf die Dauer nicht standgehalten haben. So entsteht Wissen, gesammelt und konzentriert in der öffentliche Instanz 'Wissenschaft'. Deren Modus ist die unendliche Revision alles einmal Gegebenen. Ihre Richtsprüche gelten immer 'einstweilen endgültig'; nämlich solange, bis sie durch Gründe widerlegt (oder auch nur erübrigt) werden. Ihre Schlüsse erscheinen im gegebenen Moment als notwendig.


So ist es in Unserer Welt. Ihr Platz ist Öffentlickeit. Da gehören Alle zu, ob es ihnen recht ist oder nicht.


Was zu Meiner Welt gehört, entscheidet sich nicht durch geprüftes Wissen, sondern durch geteiltes Erleben. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, beruhen typischerweise nicht auf Gründen, die der Kritik unterzogen wurden, sondern auf Motiven, die Beifall gefunden haben; Leidenschaften, Neigungen, momentane Launen. Man findet sich zusammen auf einem gemeinsamen Boden von Werturteilen, und die sind im Kern ästhetisch – doch über das Ästhetische lässt sich nicht vernünfteln.


Es zählt hier nicht, was Alle wissen und einsehen können, sondern das, was Einige meinen. Urteile entstehen nicht auf dem Wege kritischer Reduktion, sondern durch Kumulation und Anlagerung. Sie sind willkürlich und zufällig. Sie gelten immer ganz und gar, aber nur im Augenblick, doch der kann ewig dauern: willkürlich und zufällig. Es mögen auch immer Vernunftgründe zu ihnen beigetragen haben; aber nicht, weil sie begründet waren, sondern weil sie Beifall gefunden haben. Denn was stört, kommt unter den Teppich, und wenn es noch so vernünftig wäre. Es bleibt alles privat, wem es nicht gefällt, der kann ja gehen.


*

In den achtziger Jahren trat in Deutschland eine Partei auf, die die Konsensfindung anstelle von Mehrheitsbe-schlüssen zum politischen Prinzip machte. Politisch heißt öffentlich par excellence, Einvernehmen ist die typische Entscheidungsfindung im Privatbereich. Aufgelöst wurde der Widerspruch durch die Losung Das Private ist poli-tisch, doch praktisch lief es auf die Privatisierung des Politischen hinaus. 


Das müssen Sie sich so vorstellen: Wenn alles 'ausdiskutiert' werden muss, bis keine Meinungsunterschiede mehr übrigbleiben, dann dauern Sitzungen bis in die Nacht; die, die am nächsten Tag früh aus den Federn müssen, gehen abends zwischen zehn und elf, wer zäh ist oder lange schlafen kann, bleibt bis nach Mitternacht, und wegen eintretender Müdigkeit werden die Meinungsverschiedenheiten immer kleiner. Es behalten diejenigen das letzte Wort, die am längsten ausharren. So kommen "konsensuell" Beschlüsse zustande, die willkürlicher und zufälliger sind, als es ein Mehrheitsvotum je sein könnte.


*


Das konnte nicht lange dauern, schon gar nicht, seit die Grünen hier und da in Regierungen einrückten. So absurd es war – ganz aus der Luft gegriffen war die Grundidee nicht. Denn tatsächlich konstituiert das Politische in gewissem Sinn ein Zwischenreich zwischen Unserer Welt und der Meinen. Es bleibt das Öffentliche par excellence, davon ist nichts zurückzunehmen. Aber der Modus der Entscheidungsfindung ist in der Politik nicht der der Wissenschaft. Der Politiker kann nicht warten, bis im stetigen Prozess kritischer Reduktion einmal ein Punkt erreicht ist, wo man sagen kann: Das ist 'einstweilen endgültig'. Politische Entscheidungen müssen fallen, wenn sie fällig sind, ob ausdis-kutiert oder noch ganz in der Schwebe. 


Anders als im wissenschaftlichen Bereich gelten sie ganz und gar, nicht unter Vorbehalt; und anders als im privaten, sind sie terminiert: bis zur nächsten Wegbiegung. Sie sind nicht notwendig, sondern zufällig. Es werden nicht Gründe bis zu ihrer Erschöpfung geprüft, sondern Meinungen gesammelt; Motive, Werturteile, Ästhetisches. Doch wenn die Revision auch nicht permanent ist wie in der Wissenschaft, ist sie in 'vernünftig' organisierten Gemein-wesen immerhin periodisch.


Denn dieser Unterschied zum Privaten, diese Verbindung zu Vernunft, Wissen und Wissenschaft bleibt unbe-schadet: Alle Akteure, idealiter auch die privaten Wahlberechtigten, erkennen und messen einander als einem höheren Zweck und allgemeingültigen Gründen verpflichtet. Anders als in Meiner Welt gilt auch im Politischen der Hinblick auf ein Absolutes, und darum gehört es zu Unserer Welt.


aus Philosophierungen





Mittwoch, 17. Februar 2016

Sie gibt nicht klein bei, und das ist auch gut so.

aus FAZ

Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung im Bundestag bekräftigt, dass sie am bisherigen Kurs in der Flüchtlingspolitik festhalten will. Sie betonte außerdem, dass sie weiterhin die Unterstützung der Deutschen in der Flüchtlingspolitik habe. Merkel verwies auf Umfragen, nach denen 90 Prozent der Bevölkerung Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, Schutz und Unterkunft geben wollen. „Ich finde das wunderbar“, sagte Merkel vor dem Bundestag.

... In der Flüchtlingsfrage erkennt Merkel eine historische Aufgabe. Es gehe in Brüssel darum, ob man auf dem bisherigen Weg, die Fluchtursachen zu bekämpfen und die Außengrenzen zu schützen, so weit vorangekommen sei, dass es sich lohne, ihn weiterzugehen. Die illegale Migration auf diese Weise einzudämmen, sei die Voraussetzung für die angestrebten legalen Flüchtlingskontingente in Europa. „Oder müssen wir aufgeben und stattdessen (...) die griechisch-mazedonisch-bulgarische Grenze schließen – mit allen Folgen für Griechenland und die Europäische Union insgesamt“, sagte Merkel.

Nota. - Der entscheidende Punkt ist der: der Tatsache der Massenwanderung ins Auge sehen und Europa zu einem Einwanderungsland ausbauen. Das ist der Kern des Problems. Solange sie von dieser Linie nicht ab-weicht – und es sieht nicht so aus, als hätte sie das vor –, muss jeder denkende Europäer sie unterstützen.
JE

Dienstag, 16. Februar 2016

"Merkel wird Recht behalten."



Die heutige FAZ bringt heute  einen Beitrag zum Thema Flüchtlingspolitik in Europa. Darin heißt es u. a.:

"Juncker: Merkel wird Recht behalten 

Derweil hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Kritik an der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel zurückgewiesen. Die Geschichte werde Merkel Recht geben, sagte Juncker der Bild-Zeitung (Mittwochsausga-be). Er verwies dabei auch auf „die weitblickende Wiedervereinigungs-Politik von Helmut Kohl“, die ebenfalls [in Europa] lange umstritten gewesen sei. Juncker zeigte sich überzeugt: 'Angela Merkel wird all ihre jetzigen Kritiker im Amt überdauern.'"



Die Scheidung von Öffentlich und Privat ist die größte zivilisatorische Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft.



... Der springende Punkt: die Scheidung von privat und öffentlich. Sie ist eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesell-schaft oder der Gesellschaft in specie: Es gibt einen Raum, wo sie alle miteinander zu tun kriegen – das ist am äußer-sten Ende die Wissenschaft – , und einen Raum, wo jeder jedem andern aus dem Weg gehen kann – das sind auf der Gegenseite die eignen vier Wände und die Tür, die man hinter sich zumachen kann.

Die kapitalistische Gesellschaft ist darum noch nicht ganz bürgerliche Gesellschaft: Die Klassenspaltung, die ein öf-fentliches Verhältnis ist, reicht bis tief in die privatesten Verhältnisse hinein.


aus Lob der Zwietracht.



Montag, 15. Februar 2016

Schröders "Agenda 2020".

Gesprächsrunde mit  Altbundeskanzler Gerhard Schröder
aus FAZ, 15. 2. 2016

... Unterdessen hat Gerhard Schröder (SPD) eine „Agenda 2020“ zur Bewältigung der Flüchtlingskrise gefor-dert. Im Zentrum des Reformprogramms müsse ein Integrationsgesetz stehen, sagte Schröder den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Von der Frage, wie gut die Flüchtlinge integriert werden, wird abhängen, ob die Gesell-schaft die Flüchtlinge als Belastung oder als Chance wahrnimmt.“ Die SPD-Führung unterstützte Schröders Forderung.

Schröder verteidigte die Entscheidung seiner Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) vom vergangenen 
September, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. „Ein Fehler jedoch war, diesen Ausnahmezustand zur Normalität zu erklären“, kritisierte er. „Jetzt ist man dabei, diesen Fehler der Vergangenheit nachträglich zu reparieren.“

Ein Integrationsgesetz muss nach Schröders Vorstellung Sprachförderung, Schulausbildung sowie die Bereitstellung von Wohnungen und Arbeitsplätzen regeln. „Auch die Finanzierung der Integration muss geklärt werden, denn Länder und Kommunen dürfen nicht die Hauptlast tragen.“

Der Altkanzler, der in seiner Amtszeit die Reformagenda 2010 für Arbeitsmarkt und Sozialsystem auf den Weg brachte, forderte darüber hinaus „ein neues Zuwanderungsgesetz, um die Migration zu steuern und zu begrenzen“. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür bis zur nächsten Legislaturperiode warten wolle, sei „zu spät“. Schröder rief seine Nachfolgerin dazu auf, sich in der Flüchtlingskrise stärker an der proeuropäischen Politik von Altkanzler Helmut Kohl (CDU) zu orientieren. Deutschland müsse sich der Gefahr der Renationalisierung in der EU entgegenstellen: „Dafür brauchen wir wieder eine stärkere deutsch-französische Zusammenarbeit.“ ...


Nota. - Bei einem Integrationsgesetz geht es nicht darum, ob es "scharf" oder "lasch" oder links oder rechts ist, sondern darum, dass die wachsende Zahl von Zuwanderern – darüber muss man sich einig sein – aufgefordert und dabei unterstützt wird, in der deutschen Gesellschaft heimisch zu werden. Das sind die beiden Kriterien: deutsche Gesellschaft und heimisch. Die deutsche Gesellschaft – das ist zuerst einmal der öffentliche Raum. Dessen Regeln können nur respektiert werden, wenn sie allenthalben sichtbar sind. Heimisch – das ist die Privatsphäre der Zugewanderten. Da können-dürfen-sollen sie von ihrer heimatlichen Kultur bewahren, was ihnen wert erscheint. 

Das Kernproblem ist allerdings, dass allein in der abendländische Kultur die Scheidung des Daseins in einen öffentlichen und einen privaten Raum paradigmatisch (aber durchaus noch nicht selbstverständlich) geworden ist. Viele Alltagskonflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten entstehen eben daraus, dass namentlich den orientalischen Kulturen diese Scheidung völlig fremd ist. Ehrenmorde sind keine Privatsache, sondern bre-chen das Recht, und das ist öffentlich. 

Die Dynamik der letzten hundert Jahre ging im Westen dahin, dass 'das Öffentliche' immer tiefer ins Privatleben der Menschen eingedrungen ist, erst als Verwaltung und Reglementierung, inzwischen digital durchs Internet. Sodass auch die westliche Kultur gar nicht so sicher ist, wo genau die Grenzen verlaufen und wo sie verlaufen sollen. Integration der Neuankömmlinge verlangt daher nicht nur, dass ihnen immer wieder deutlich gemacht wird, worein sie sich integrieren sollen, sondern ebenso sehr, dass die deutsche Gesellschaft sich selber darüber im Klaren ist; und wo sie's nicht ist, muss sie es werden.
JE 

Freitag, 12. Februar 2016

Besser so als gar nicht.

aus Der Standard, Wien,11.2.2016

Wien lädt zu EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise
Bundeskanzler Faymann wird nächste Woche in Brüssel Gastgeber für "Koalition der willigen EU-Staaten" sein

von Thomas Mayer aus Brüssel 

"Die Einladungsbriefe sind noch nicht verschickt", sprich, mit der offiziellen Bestätigung könne man im Moment noch nicht dienen. Aber auf die Frage, ob es unmittelbar vor dem nächsten regulären EU-Gipfel kommende Woche in Brüssel wieder einen Flüchtlingssondergipfel der "Koalition der willigen EU-Staaten" gemeinsam mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu geben wird, kommt aus dem Bundeskanzleramt in Wien ein "vorsichtiges Ja". 

Zumindest derzeit. Das Extratreffen von (mindestens) elf Staats- und Regierungschefs (darunter die deutsche Kanzlerin Angela Merkel) wird sich nur mit der Flüchtlingskrise und den anstehenden konkreten Schritten für Lösungen befassen. Es ist dies bereits der zweite Gipfel in diesem Format nach einer ersten Einladung durch Bundeskanzler Werner Faymann im vergangenen Dezember. Ort der Aussprache wird nach Informationen des STANDARD die Ständige Vertretung Österreichs in Brüssel sein. 

Hollande und Renzi erwartet 

Die Vorbereitungen und Sicherheitsmaßnahmen haben Anfang der Woche begonnen. In den kommenden Tagen wird sich entscheiden, ob die Gruppe zur Umsetzung des EU-Türkei-Pakets und zur Beschleunigung der EU-Programme zur Flüchtlingsversorgung in der Union um zwei entscheidende "Player" ergänzt wird. Neben Faymann und Merkel waren bisher die Regierungschefs der Beneluxstaaten (also Niederlande, Belgien und Luxemburg) dabei, von Finnland und Schweden, von Portugal, Griechenland, Slowenien – und der Türkei. Frankreichs Präsident François Hollande ließ sich im Dezember von Europaminister Harlem Desir vertreten. 

Nächste Woche könnte Hollande persönlich in die österreichische Botschaft kommen. Merkel hat sich das bei einem gemeinsamen Abendessen in Straßburg (mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz) ausdrücklich gewünscht. Kanzler Faymann wird heute, Freitag, nach Rom reisen und Wirtschaftsgespräche mit Premier Matteo Renzi führen. Spätestens danach sollte klar sein, ob sich auch Italien der Flüchtlingspolitik dieser "Koalition der Willigen" anschließen wird. Kommissionschef Jean-Claude Juncker wird wie auch Schulz eingeladen. Die Osteuropäer sind nicht interessiert. 

Wende in der EU-Flüchtlingspolitik 

Damit zeichnet sich im Management der Flüchtlingskrise eine deutliche Wende in der EU ab. Bisher hatte man so getan, als käme nur eine gesamteuropäische Lösung infrage. Nun hat auch die Nato auf türkischen und deutschen Druck hin am Mittwoch entschieden, eine Mission zur Sicherung der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei zu starten. Der Plan der Koalition ist, dass illegale Flüchtlinge in Zukunft in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Stattdessen sollen vor allem Syrer direkt von der Türkei aus in EU-Staaten neu angesiedelt werden (Resettlement). Beim Sondergipfel wollen die beteiligten Staaten erstmals darüber reden. Ziel ist, dass der illegale Zustrom nach Europa beendet wird.

Mittwoch, 10. Februar 2016

Moralisierende Götter und gesellschaftlicher Zusammenhalt.

aus Die Presse, Wien, 11. 2. 2016

Brüder im Glauben an strafende Götter sind enge Brüder
Moralisierende Götter sind jene, die strenge Gebote erlassen und sie auch streng überwachen. Sie schaffen einen starken Zusammenhalt derer, die an sie glauben – auch wenn sie einander gar nicht kennen –, und eine Ausbreitung dieser Gesellschaften.

von Jürgen Langenbach

Macht haben alle Götter, aber ihr Umgang damit lässt sie in zwei große Gruppen unterteilen: Bei den einen, etwa an den Höfen von Zeus und Odin, geht es nach Lust und Laune zu, sie schmieden untereinander Ränke, betreiben ihre Liebschaften, so gehen sie auch mit den Menschen um, der rachsüchtige Poseidon verfolgt Odysseus quer durch die Meere, der liebestolle Zeus arbeitet mit allen Finessen. Solche Götter, auch viele ältere Naturgötter, haben keine Gesetze, sie erlassen auch keine, sie wollen nur Opfer und Rituale.

Ganz anders ist es bei den moralisierenden Göttern: Sie verfügen strenge Gebote, überwachen sie und strafen, sind unduldsam, auch gegenüber anderen Göttern. Das mag das Überleben der Gläubigen fördern, Carlos Botero (North Carolina State University) hat es vermutet, als er die ganze Erde auf Umweltbedingungen und Gottheiten durchforstete: Wo die Natur mild ist und freigiebig und Jäger und Sammler nur zugreifen müssen, da gibt es keine Gesetze von oben.


Aber wo man dem Boden mühsam etwas abgewinnen muss und/oder die Natur launisch ist, wo das Überleben enge Kooperation und harte Disziplin fordert, werden Tafeln aufgestellt, die das Zusammenleben rigide regeln: „Die Wahrscheinlichkeit moralisierender Götter wächst dort, wo die Umwelt variabler und weniger vorhersehbar ist“, schloss Botero und verwies auf eine frappante Parallele: Seine Weltkarte der moralisierenden Götter ist fast deckungsgleich mit einer, auf der das Brutverhalten von Vögeln verzeichnet ist: Auch die rücken in rauen Umwelten zusammen, dort kommen zum Brüten halbwüchsige Helfer (Pnas 47, S. 16784).

Religion haben Vögel natürlich nicht, und allzu große und ausdifferenzierte soziale Verbände bilden sie auch nicht. Aber sie behalten einander gut im Blick. Das ist auch die Machtgrundlage der Überirdischen, die Totempfähle der Indianer haben viele Augen, der christliche Gott wird als Auge in einem Dreieck symbolisiert. Und je genauer ein Gott die Seinen im Blick hat und je härter er Verfehlungen straft, desto größer wird die Kooperationsbereitschaft derer, die an ihn glauben, auch wenn sie einander nicht kennen und nie kennenlernen werden, also nicht auf Gegenleistung spekulieren.

Wie viel gibt man ab, je nach Gott?

Das ist das vorerst letzte Wort in der alten Debatte, ob moralisierende Götter für die Bildung komplexer Gesellschaften bzw. sozialer Kooperation nötig sind. Bisherige ethnologische Befunde sind wenig konsistent, und psychologische Befunde haben oft wenig Aussagekraft, weil sie in Labors in den USA mit Studenten gewonnen wurden. Deshalb hat Benjamin Purzycki (University of British Columbia) sieben Ethnien in aller Herren Länder aufgesucht, mit verschiedenen Ökonomien und Religionen. Die hat Purzycki abgefragt, dann kam ein Experiment: Die Testpersonen erhielten Geld, sie konnten es aufteilen, etwas für sich behalten, etwas für einen Glaubensbruder zur Seite legen, der am anderen Ende der Erde lebt.

Dem gaben sie um so üppiger, je stärker sie sich von ihrem Gott beobachtet sahen und je höhere Strafen sie von ihm fürchteten (Nature 10. 2.): „Das Bekenntnis zu moralisierenden, wissenden und strafenden Göttern stärkt soziale Bande, die breitere vorgestellte Gemeinschaften schaffen“, schließt Purzycki und meint damit, dass solche Götter nicht nur den Zusammenhalt von Menschen gleichen Glaubens fördern, sondern auch die Ausbreitung ihrer Gesellschaften.


Nota. - Das ist beinahe eine Tautologie: Gesellschaften, die keinen starken inneren Zusammenhang brauchen, brauchen auch keine moralisierende Religion. Nicht ganz so banal ist: Völker ohne engen Zusammenhalt kön-nen ihre Nachbarn nicht unterwerfen. 

Mohammeds Lehre gab den Stämmen auf der arabischen Halbinsel einen Zusammenhalt, den sie vorher nicht kannten. Sie eroberten innerhalb von ein, zwei Generationen den Vorderen Orient und Nordafrika. Wäre der Prophet nicht bewaffnet gewesen, hätte er sie nicht vereinigen können, wären sie nicht vereinigt gewesen, hätten sie nichts erobern können. Doch das Reich wurde zu groß, das Herrenvolk zu klein, der Zusammenhalt löste sich auf, die Religion erstarrte.

Das Christentum hatte keinen bewaffneten Propheten. Es brauchte viele Jahrhunderte, um dem Abendland einen (höchst prekären) Zusammenhalt zu verschaffen – wenigstens nach außen. Aber so hat es – das Abendland – sich die Welt unterworfen. Dabei löste die Religion sich allerdings auf, und ein paar Generation später auch die Weltherrschaft des Abendlands.
JE

Montag, 8. Februar 2016

Völkerwanderungen in der Spätantike.

Ravenna, Grabmal Theoderichs
Alte Bäume offenbaren "Spätantike Kleine Eiszeit" vor rund 1500 Jahren 

Reinhard Lässig 
Medienkontakt WSL Birmensdorf 
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL 

Jahrringmessungen decken eine drastische Kälteperiode in Eurasien zwischen 536 und etwa 660 nach Christus auf. Sie überlagert sich zeitlich mit der Justinianischen Pest sowie mit politischen Umwälzungen und Völkerwanderungen sowohl in Europa als auch in Asien. Dies berichtet ein interdisziplinäres Team unter Leitung der Eidg. Forschungsanstalt WSL und des Oeschger-Zentrums der Universität Bern im Fachjournal "Nature Geoscience".

Die Wissenschaftler um den Jahrringforscher Ulf Büntgen von der WSL konnten erstmals präzise die Sommertemperaturen der letzten 2000 Jahre in Zentralasien rekonstruieren. Möglich machten dies neue Jahrringmessungen aus dem russischen Altai-Gebirge. Die Ergebnisse ergänzen die bereits 2011 im Fachjournal "Science" von Büntgen und Kollegen publizierte Klimageschichte der Alpen, welche 2500 Jahre zurückreicht. "Der Temperaturverlauf im Altai passt erstaunlich gut mit dem der Alpen überein", sagt Büntgen. Die Studie ermöglicht erstmals Aussagen über die Sommertemperaturen in grossen Teilen Eurasiens für die letzten 2000 Jahre.

Aus der Breite der Jahrringe kann man die sommerlichen Klimabedingungen der Vergangenheit jahrgenau ableiten. Dabei stach den Forschenden eine Kälteperiode im 6. Jahrhundert ins Auge, die noch kälter, länger und großräumiger war als die bisher bekannten Temperatureinbrüche innerhalb der „Kleinen Eiszeit“ zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert. "Es war die stärkste Abkühlung auf der Nordhalbkugel während der letzten 2000 Jahre", sagt Büntgen.

Klima und Kultur

Die Forschenden bezeichnen deshalb erstmals den Zeitraum von 536 bis etwa 660 nach Christus als "Spätantike Kleine Eiszeit" (Late Antique Little Ice Age, LALIA). Auslöser waren drei große Vulkanausbrüche in den Jahren 536, 540 und 547 nach Christus, deren Effekt auf das Klima durch die verzögernde Wirkung der Ozeane und ein Minimum der Sonnenaktivität noch verlängert wurde.

Gemäß dem Team aus Natur-, Geschichts- und Sprachforschern fällt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Umwälzungen in diese Periode. Nach Hungersnöten etablierte sich zwischen 541 und 543 die Justinianische Pest, die in den folgenden Jahrhunderten Millionen von Menschen dahinraffte und vermutlich zum Ende des Oströmischen Reichs beitrug.

Völkerwanderungen

In die von den Römern verlassenen Gebiete im Osten des heutigen Europas wanderten Frühslawisch sprechende Menschen ein, vermutlich aus den Karpaten, und definierten den slawischen Sprachraum. Auch die Expansion des Arabischen Reichs in den Mittleren Osten könnte von der kühlen Periode begünstigt worden sein, mutmaßen die Forschenden: Auf der arabischen Halbinsel gab es mehr Regen, mehr Vegetation und somit mehr Futter für Kamelherden, welche die arabischen Armeen für ihre Kriegszüge nutzten.

In kühleren Gebieten wanderten einzelne Völker auch nach Osten in Richtung China, vermutlich wegen eines Mangels an Weideland in der Zentralasien. In den Steppen Nordchinas kam es folglich zu Konflikten zwischen Nomaden und den dort herrschenden Mächten. Eine Allianz dieser Steppenvölker mit den Oströmern besiegte danach das persische Großreich der Sassaniden und führte zu dessen Untergang.

Strategien für den heutigen Klimawandel

Die Forscher betonen jedoch, dass mögliche Zusammenhänge zwischen der Kälteperiode und soziopolitischen Veränderungen stets mit grosser Vorsicht zu beurteilen seien. "Die 'Spätantike Kleine Eiszeit' passt aber erstaunlich gut mit den grossen Umwälzungen jener Zeit zusammen", schreiben sie.

Für Ulf Büntgen zeigt die Untersuchung beispielhaft auf, wie abrupte Klimaveränderungen bestehende politische Ordnungen verändern können: "Aus der Geschwindigkeit und Größenordnung der damaligen Umwälzungen können wir etwas lernen", sagt er. So ließen sich Erkenntnisse darüber, wie sich große Klimaumschwünge früher ausgewirkt haben, beispielsweise dazu nutzen, um Strategien im Umgang mit dem heutigen Klimawandel zu entwickeln.

Weitere Informationen:

Nota. - Erst vor wenigen Tagen schrieb ich, die Ursachen für unsere große Völkerwanderung in Europa lägen noch immer im Dunkel. Vielleicht wird es jetzt etwas heller?
JE

Altai-Gebirge: hier u. a. wurden die Baumringe vermessen
... „Nach dieser einzigartigen Serie von Eruptionen wurde die abrupte Abkühlung der Sommer wahrscheinlich verstärkt durch Rückkopplungseffekte infolge der Wärmeaufnahme der Ozeane und der Ausdehnung des Meereises“, schreiben die Forscher. Die Kältephase von 536 bis etwa 660, die sie „Late Antique Little Ice Age“ (Latia; Kleine Eiszeit der Späten Antike) nennen, habe wahrscheinlich jede andere Kältephase der vergangenen 2000 Jahre übertroffen. Latia könne man sowohl als zusätzlichen Umweltauslöser von Missernten, Hunger und in deren Folge Krankheiten betrachten als auch als möglichen Auslöser politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wirren, meinen die Autoren.

Zu den Epidemien zählen sie etwa die Justinianische Pest, die den Mittelmeerraum ab 541 heimsuchte und Millionen Menschen tötete. Kurz darauf, im Jahr 551, wurde in Zentralasien, wo die Kältephase stärker ausgeprägt war als in Europa, die Stammesföderation Rouran durch Turkvölker beendet. Kälte und politische Wirren waren nach Ansicht der Forscher auch der Grund für ausgeprägte Völkerwanderungen. 

Demnach erreichten die von Osten kommenden Awaren bis etwa 550 das Schwarze Meer, bevor sie letztlich im heutigen Ungarn siedelten. Sie könnten den Autoren zufolge die Langobarden verdrängt haben, die 568 ins heutige Italien einfielen. Auf der Arabischen Halbinsel förderten höhere Niederschlagsmengen die Ausbreitung der Vegetation und trugen somit indirekt zum Aufstieg des Islamischen Reiches bei, argumentieren Büntgen und Kollegen. Größere Kamelherden könnten den Transport der arabischen Armeen und ihrer Vorräte während der Eroberungszüge im 7. Jahrhundert gefördert haben.

In einem Kommentar, der ebenfalls in „Nature Geoscience“ erscheint, schreibt der Historiker John Haldon von der Universität Princeton, an gesellschaftlichen Veränderungen seien immer viele Faktoren beteiligt, nicht zuletzt die Strukturen der Gesellschaften. Dennoch lasse sich der Einfluss von Klima- und Umweltveränderungen nicht leugnen. Die extreme Kältephase falle mit ähnlich dramatischen historischen Veränderungen zusammen. „Im Fall der Kleinen Eiszeit in der Späten Antike haben wir anscheinend einen ziemlich klaren Fall anzunehmen, dass eine dramatische Abkühlung, die ziemlich präzise datiert werden kann und mit substanziellen gesellschaftlichen Veränderungen auf einem großen Teil der Erdoberfläche zusammenfiel, einen ursächlichen Einfluss besaß.“

Wolfgang Behringer von der Universität des Saarlandes, der an der Studie nicht beteiligt ist, betont, die Kältephase am Übergang von Antika zum Mittelalter sei unter dem Namen „frühmittelalterliches Pessimum“ schon länger bekannt. Ihre Ausprägung werde aber durch die aktuelle Studie, die viel Neues enthalte, untermauert. „Damals ist Außerordentliches passiert“, sagt der Historiker. Eine Schwäche der Studie sei allerdings, dass die Autoren nicht darauf eingingen, dass zwei Großreiche bereits früher zusammengebrochen seien: das Römische Reich im 5. und die chinesische Han-Dynastie im 3. Jahrhundert. dpa

Freitag, 5. Februar 2016

Können wir das schaffen wollen oder müssen wir das schaffen können?

aus spiegel online

Gerhard Schröder lobt seine Amtsnachfolgerin: Angela Merkel habe in der Flüchtlingskrise richtige Entscheidungen getroffen - allerdings die falschen Worte gewählt.

Es ist wohl einer der Sätze, der momentan am häufigsten mit Kanzlerin Angela Merkel in Verbindung gebracht wird: Ihr "Wir schaffen das" angesichts der Flüchtlingskrise ist viel zitiert, sie wird dafür gelobt - aber auch kritisiert. Nun hat sich Altkanzler Gerhard Schröder zu den berühmten Worten geäußert.

"Ich hätte nicht gesagt: Wir schaffen das", sagte er bei einer SPD-Veranstaltung in Stuttgart. "Ich hätte gesagt: Wir können das schaffen, wenn wir bereit sind, Voraussetzungen dafür hinzubekommen." Schröder lobte Merkel allerdings auch: Sie habe richtig gehandelt, als sie im September die Grenze zu Österreich für Flücht-linge öffnete. In der Situation hätte kein Kanzler eine andere Entscheidung treffen können, sagte Schröder. Es sei nicht falsch gewesen, über die gesetzlichen Regelungen hinwegzusehen. "Der Fehler war, dass sie aus einer Ausnahmesituation den Anschein erweckt hat, das sei die neue Normalität." Die Politik versuche nun, diesen Fehler zu korrigieren, allerdings mehr schlecht als recht.


Temporär ist die hohe Zahl an Flüchtlingen laut Schröder eine Belastung. Aber wenn ihre Integration gelinge, seien die Flüchtlinge eine Riesenchance. Die Integration könne aber nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden gelingen - über Bildung, Ausbildung und Arbeit.



Nota. - Das ist Haarspalterei. Natürlich schaffen wir das nur, wenn wir das Nötige tun. Was das Nötige ist, wird man im Meinungsstreit ermitteln müssen, anders ist das bei uns ja gar nicht möglich. Insofern wäre Schröder besser beraten gewesen, wenn er auf diese 'Kritik' an Frau Merkel verzichtet hätte, aber das erlaubte ihm sein Ego nicht. Immerhin hat es ihm erlaubt, in der Sache Frau Merkels Politik zu unterstützen, und da ist er wohl schon über seinen Schatten gesprungen; das ist mehr, als man erwartet hätte.

Und um die Dinge ins rechte Lot zu bringen: Das Nötige wird nicht darin bestehen, überall die Hürden niedriger zu legen. In dem Wort Integration steckt das lat. integer - ganz, heil, unversehrt. Wer sich integrieren will, muss wahrnehmen können, worein. Politische Korrektheit, Gutmenschelei und Multikulti sind mir gründlich fremd, und eine Grundlage dafür, dass 'wir es schaffen', sind sie ganz und gar nicht. Die abendländische Kultur muss in Deutschland Profil zeigen, das wird nicht allen Einheimischen leicht fallen, und darum ist es grad auch für sie vonnöten. Der schärfste und charakteristischste Zug der abendländischen Kultur ist dieser: Sie ist universali-stisch, und nur so kann sie freiheitlich sein. Die ressentimentgeladenen Gartenzwerge können sie nicht zeigen, weil sie ihnen fremd ist. Man sollte sie in ihre Vorgärten unter ihre Silbertannen verbannen.

JE 


Donnerstag, 4. Februar 2016

Weitgehende Neubesiedlung Europas nach der letzten Eiszeit.

Dolní Věstonice (Südmähren)
aus derStandard.at, 4. Februar 2016, 18:47

Hinweise auf ungeahnten eiszeitlichen Bevölkerungswandel
Europas Besiedlungsgeschichte wird noch komplexer: Forscher verglichen mitochondriale DNA von 35.000 bis 7.000 Jahre alten Jägern und Sammlern

Jena/Wien – Im Jänner präsentierte ein Forscherteam mit Wiener Beteiligung neue Erkenntnisse zu Ötzi. Die Analyse seiner für Europäer untypischen Magenbakterien wies darauf hin, dass es nach der Ära des Eismannes bislang unbekannte, überraschend späte Migrationsströme von Afrika nach Europa gegeben haben muss. Diese brachten die heute auf unserem Kontinent verbreitetsten Magenbakterien mit sich. Das war vor gut 5.000 Jahren.

Deutlich weiter geht eine Studie zurück, die nun im Fachmagazin "Current Biology" erschienen ist und die die Geschichte der Besiedlung unseres Kontinents noch komplexer erscheinen lässt. Offenbar kam es am Ende der letzten Kaltzeit zu einem tiefgreifenden Bevölkerungswandel.

Wellen der Einwanderung

Die Nachfahren des Homo erectus, der ersten Menschenart, die in die Welt hinauszog, lebten seit mindestens 600.000 Jahren in Europa. Ihr letzter Vertreter war der Neandertaler. Homo sapiens traf erst vor etwas über 40.000 Jahren auf unserem Kontinent ein. Menschliche Fossilien aus dieser Pionierzeit wurden nun für Erbgutanalysen herangezogen und mit solchen aus wesentlich jüngerer Zeit verglichen. Insgesamt untersuchte das internationale Forscherteam die Überreste von 35 steinzeitlichen Jägern und Sammlern aus sechs verschiedenen Ländern mit einer Altersspanne von 35.000 bis 7.000 Jahren. Herangezogen wurde dafür die mitochondriale DNA, die mütterlicherseits vererbt wird.


Rueil-Malmaison

Die Analyse bescherte dem Team unter Leitung von Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte eine Überraschung: Die ältesten Europäer gehörten nämlich der sogenannten Haplogruppe M an, einem Genotyp, der heute in Europa fast überhaupt nicht mehr anzutreffen ist. Auf dem Höhepunkt der letzten Kaltzeit wurden diese frühen Menschen an die südlichen Ränder Europas zurückgedrängt. Als es wieder wärmer wurde, konnten sie sich aber offenbar nicht mehr ausbreiten, sondern wurden von Menschen einer anderen Abstammungslinie ersetzt. Dieser fundamentale Bevölkerungswandel muss sich vor etwa 14.500 Jahren ereignet haben, so die Forscher.

Der Ursprung dieser bislang unbekannten Welle soll Gegenstand künftiger Forschungen sein. (jdo)

Abstract
Current Biology: "Pleistocene Mitochondrial Genomes Suggest a Single Major Dispersal of Non-Africans and a Late Glacial Population Turnover in Europe"