Mittwoch, 30. September 2015

Die neue Deutsche Frage.

aus nzz.ch, 28.9.2015, 06:00 Uhr

Europa auf dem Prüfstand 
Deutschlands Janusgesicht, 1989–2015

von Harold Holmes

Steht Europa ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1989 vor dem Kollaps? Der britische Historiker Harold James analysiert die Diskussion, in der die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands eine prominente Rolle spielt.

2015 ist eine bizarre Wiederholung von 1989. 1989 war ein Frühling der Völker, 2015 ist das Ende – der graue Herbst – der Illusionen jenes Frühlings. Im August 1989 lösten die über die ungarisch-österreichische Grenze strömenden Flüchtlinge aus Ostdeutschland eine scheinbar unaufhaltsame Dynamik aus, die zur friedlichen Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, zum Fall des Eisernen Vorhangs, zum Ende der DDR und zum Zerfall der Sowjetunion führte. Im August und September 2015 unterminieren das Leid und die unaufhaltsame Dynamik der an die Grenzen Europas und insbesondere an die ungarisch-österreichische Grenze brandenden Flüchtlingsströme die Legitimität der EU. Könnten die Migrationsströme von 2015 die EU genauso zerstören, wie jene von 1989 das sowjetische System zerstörten?

Was ist Europa?

Die hitzige Flüchtlingsdebatte in Osteuropa dreht sich auch um das Erbe von 1989. Die damalige Revolution war eine klare Absage an die Diktatur des Kommunismus, aber sie war ambivalent im Blick auf das, was folgen sollte. Stärkte sie die nationale Vision eines wiederbelebten polnischen, tschechischen oder ungarischen Staats – oder stand sie vielmehr im Zeichen eines kollektiven europäischen Gedankens und einer grenzübergreifenden Identität? Diese Dichotomie ist aber nur Schein, denn faktisch gehen Europa und die Wiederbelebung des Nationalgedankens Hand in Hand. Der Irrtum, der jener alten Diskussion zugrunde lag, affiziert nun ganz Europa, vor allem, weil die Interpretation dessen, was Europa ist und bedeutet, sich zunehmend auf die Verhandlung der «deutschen Frage» fokussiert.

Die Debatte über das Erbe von 1989 dreht sich ganz besonders um die Erfahrung Deutschlands. In kritischen Momenten der Wendezeit von 1989/90 versuchten führende deutsche Politiker, die Entwicklungen in ihrem Land in einen weiteren europäischen Rahmen einzupassen. Hans-Dietrich Genscher und andere wurden nicht müde, die Formulierung Thomas Manns zu zitieren, dass sie ein europäisches Deutschland anstrebten und nicht ein deutsches Europa. Aber sie machten kaum je deutlich, auf welche Art und Weise Deutschland europäischer werden sollte, und die Empfehlungen, die sie abgaben, waren letztlich sehr deutsch. Aber was ist überhaupt Europa? Und sind Politiker fähig, eine Vision auszuformulieren, die über den Nationalstaat hinausgeht?

Früher sahen manche Europa als metaphysisches Konzept, in dem sich die Probleme der Vergangenheit auflösten und lösten: als Hort der Vergebung und des Heils. Charles de Gaulle dagegen betrachtete Europa im Zeichen eines französisch-deutschen Psychodramas: Er beschrieb die Beziehung der beiden Länder als endlose Geschichte von Verrat und Dekadenz. Das Szenario von Deutschlands Triumph und Frankreichs selbstverschuldeter Unterlegenheit, das de Gaulle 1940 beschwor, feiert derzeit in Europa wieder Urständ. Aber worin liegt die Beziehung zwischen jener grossen Vision von Europa und dem faktischen, aus Reformunfähigkeit und dem Eigennutz der Eliten resultierenden wirtschaftlichen Drama, das Europa in eine bittere Vergangenheit zurückzudrängen droht?

Deutschlands wirtschaftliche Übermacht warf ihren Schlagschatten auf jede Debatte – schon lange vor 1989. Deutschland gerierte sich auch als Vorbild für Europa. 1976, als infolge der Ölkrise die Weltwirtschaft erstmals nach Kriegsende in Schockzustand verfallen war, sprach Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Wahlkampagne vom «Modell Deutschland». Dieser exemplarische Charakter ist heute ausgeprägter denn je – er zeigt sich in Deutschlands Arbeitsmarktreform, den Beziehungen zwischen den Tarifpartnern, dem Ausbildungssystem für Lehrlinge, dem Augenmerk auf Währungsstabilität und Budgetdisziplin («Schuldenbremse» ist, wie «Angst», «Kindergarten» und «Schadenfreude», ein Begriff, der über die deutschen Sprachgrenzen hinaus Verbreitung gefunden hat). Die damit bewusst oder implizit vermittelte Botschaft heisst: Andere Europäer sollten deutscher werden – aber Deutschland wird immer noch definieren, was recht und billig ist. Und alle werden davon profitieren, aber die Deutschen mehr als die andern.

Verschwörungstheorien

So spitzt sich die Debatte auf die Frage zu, ob die Währungsunion faktisch eine Umsetzung deutscher – und nicht in erster Linie europäischer – Interessen war.

Weil der Vertrag von Maastricht nach massiven geopolitischen Verwerfungen ausgehandelt wurde, steht sein Resultat im Licht zweier äusserst wirkungsmächtiger, aber völlig verkehrter theoretischer Sichtweisen. Diese dominieren die gegenwärtige Diskussion über das Wie und Warum beim Beschluss der Einheitswährung; sie befeuern politische Leidenschaften, ohne auch nur das Geringste zu einer Lösung beizutragen. Beide sind nachgerade obsessiv auf die Rolle Deutschlands bei der Durchsetzung der Währungsunion fixiert, und sie stehen einander spiegelbildlich gegenüber: Die eine zeigt Deutschland als durch und durch tugendhaft, die andere lässt es rein bösartig erscheinen.

In der ersteren Variante ist die Währungsunion ein von hohem Geist getragenes europapolitisches Projekt, bei dem man über die ökonomischen Realitäten hinwegsah. Es war nötig, um den Teufelskreis der deutsch-französischen Kriege zu durchbrechen.

Die zweite Variante dagegen portiert die Verschwörungstheorie eines verborgenen deutschen Masterplans: Da Deutschland eine niedrigere Lohninflation als Frankreich und eine wesentlich niedrigere als die Mittelmeerländer hatte, würde eine Einheitswährung mit fixem Kurs dem Land wachsende Importüberschüsse garantieren, für die andere den Preis bezahlen mussten. Im Auge der Kritiker verfolgte Deutschland eine merkantilistische Strategie, die dem Land dauerhafte Kontrolle über die Ressourcen sichern sollte und deren Resultat eine erneute Vormachtstellung Deutschlands in Europa sein würde.

Dass die europäische Elite eine Art fallweises Krisenmanagement betreibt, lässt den Anschein entstehen, die grösseren Zusammenhänge würden bewusst aus dem Blick gerückt; das wiederum ruft den Verdacht hervor, dass die Krisen instrumentalisiert werden.

Die heftigen Gefühle, die im Lauf der nicht enden wollenden europäischen Schuldenkrise aufkamen, schwappen nun über in andere Diskussionen.Deutschlands Reaktion auf die Flüchtlingskrise polarisiert, genauso wie zuvor die Schuldendebatte. Für Kritiker wie etwa den ungarischen Staatschef Viktor Orban hat Deutschland die Krise verschuldet: Seine wirtschaftliche Stärke und seine grosszügige Sozialpolitik entfalteten eine gewaltige Sogwirkung. Marine Le Pen ist der Ansicht, dass Deutschland moderne Arbeitssklaven importiert: Sie nannte Angela Merkel eine «Kaiserin», die dem restlichen Europa ihren Willen aufzwinge – zuvörderst dem glücklosen französischen Präsidenten. In anderen Augen – natürlich denen der syrischen Flüchtlinge, aber auch denjenigen einstiger Kritiker im In- und Ausland (sogar Yannis Varoufakis liess sich die Gelegenheit zu einer Stellungnahme nicht entgehen) – ist Angela Merkel eine Heldin, und ihr zorniger Bescheid an die CSU eine Art neuer Nationalhymne: «Dann ist das nicht mein Land.»

Das neue Deutschland wird genauso hochgejubelt – und dämonisiert – wie einst das alte. Seit 1989 sieht sich Deutschland selbst als weltoffener und flexibler, aber auch vermehrt als moralische Instanz. Doch dieser Moralismus, diese deutsche Überheblichkeit, macht es nicht einfacher, Antworten auf globale Probleme zu finden.

Keine gemeinsame Stimme

Am einfachsten ist es, die Schuld jemand anderem – und zwar ausserhalb Europas – zuzuschieben. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch zulässig: ganz offensichtlich etwa bei Krisen, die ihren Ursprung anderswo haben, wie die amerikanische Hypothekenkrise, die politischen Ausfälle Putins, der Arabische Frühling und der Aufstand gegen Asad. Aber diese Erschütterungen und ihr politisches Fallout riefen in Europa unterschiedliche Reaktionen hervor, und die einzelnen Länder formulierten ihre Politik entlang ganz unterschiedlicher Linien. Die Euro-Krise kann als Konflikt zwischen den wirtschaftspolitischen Visionen Frankreichs und Deutschlands oder zwischen Europas Norden und Süden angesehen werden. Die baltischen Staaten und Polen fühlen sich von Russland in ihrer Sicherheit akut bedroht, Südosteuropa dagegen betrachtet einen möglichen Bruch mit Russland mit Sorge. Osteuropa und Grossbritannien gehen mit der Flüchtlingskrise völlig anders um als Deutschland oder Frankreich.

Als das geeinte Europa im Zenit seines Selbstvertrauens stand, war eine seiner stolzesten Behauptungen, dass es einen stabilen Ankerpunkt für den Rest der Welt bieten würde. Mittlerweile aber wirkt das europäische Modell arg gezaust, und das hat auch negative Implikationen für die Stabilität in anderen kritischen Regionen, etwa in Ostasien oder dem Nahen Osten. Dazu kommen Probleme, die eindeutig hausgemacht sind: die Fehlkonzeptionen oder Strukturdefekte der Währungsunion, die Überalterung in vielen Teilen Europas, die Wachstumsschwäche.

Im modernen Europa gibt es keine schlüssige Möglichkeit, die grundsätzlichen Interessen der Europäer zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Doch wäre ein Mechanismus vonnöten, der es erlaubt, diese grösseren Zusammenhänge zu erfassen – eine Art Zoom, der sich von der Fixierung aufs Nationale losreisst und stattdessen Europa als Ganzes ins Bild rückt. Aber wie vermittelt man den Europäern dieses grössere Bild, wie bringt man sie dazu, die Welt nicht mehr primär im Licht nationaler Interessen und eines nationalen Egoismus zu sehen?

In Deutschland wurde die sich wandelnde Dynamik zumindest auf Verfassungsebene wahrgenommen. Nach der Wende von 1990 wurde Artikel 23 des Grundgesetzes, in dem die Wiedervereinigung mit den ostdeutschen Bundesländern präfiguriert war, in einer Weise modifiziert, die Deutschland auf die Mitwirkung bei Aufbau und Entwicklung der Europäischen Union verpflichtet. Mächtige und respektierte Institutionen wie das deutsche Verfassungsgericht und die Bundesbank anerkennen diesen Passus als Einschränkung ihrer Deutungshoheit; sie sind nicht gewillt, um der problematischen nationalen Tradition willen eine europäische Krise zu riskieren.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und die derzeitige Katastrophe im humanitären Bereich setzen Europa einer harten Belastungsprobe aus. 1989 war ein unvorhersehbarer Schock gewesen; 2015 wissen wir, dass mit zahlreichen weiteren Schocks zu rechnen ist. 1989 lehrte uns, dass der Nationalstaat eine Art psychischer Rückversicherung in unruhigen Zeiten sein kann; 2015 realisieren wir, dass ein weit grösseres Versicherungssystem vonnöten ist. Wie jede Versicherung muss es mit Bedacht aufgebaut und gegen Missbrauch geschützt werden. Aber ohne einen solchen Schutzmechanismus dürfte auch der psychologische Rückhalt, den ein Nationalstaat schaffen kann, nicht mehr genügend tragfähig sein.

Harold James lehrt Geschichte an der Princeton University. Deutschland und europäische Wirtschaftsgeschichte sind Schwerpunkte seiner Studien. – Aus dem Englischen von as.


Nota. - Dass Deutschland doch wieder ein politischer und nicht bloß ein geographischer Begriff geworden ist, ist erst anderthalb Jahrhunderte her. Und weil es so spät kam, als andere den Kuchen schon aufgeteilt hatten, konnte es nur ein problematischer Begriff werden, denn es kam als Störenfried. Man muss ja nur auf die Landkarte schauen: Wenn Deutschland sich stabilisiert, ist es das Kernland dieses Kontinents. Und jetzt hat sich Deutschland stabilisiert.

Soll Deutschland in Europa führend sein? Historisch hieß die Frage so: Deutschland oder Frankreich; oder England; oder Russland... Ausgangspunkt war die Rivalität mehrer Prätendenten. Das ist aber vorüber. Wenn Deutschland in Europa nicht führend ist, wer dann? Eben: keiner. Es ist nicht so, dass mehrere mögliche Wege offenstehen: Die einen wollen hierlang, die andern wollen dalang, mehrere Führungen streiten um den Vortritt, da muss man sich konsensuell auf was verständigen...; sondern es geht entweder voran, und sei's auch nur Schritt für Schritt, oder es stagniert und zerbröselt. Das war in der Schuldenfrage so, das ist mit den Flüchtlingen nicht anders. Die Gefahr ist nicht, dass Deutschland führt, sondern dass es kneift. Man kann nur hoffen, dass Merkel und ihr Finanzminister in der Flüchtlingsfrage mindestens so standhaft bleiben wie bei den Schulden. Das ist die neue Deutsche Frage.
JE

Dienstag, 22. September 2015

Lob der Zwietracht.


Unter der Überschrift Lob der Zwietracht referiert André Kieserling in der FAZ vom 17.09.2015 einen erst unlängst veröffentlichten Aufsatz des 1998 verstorbenen Systemtheoretikers Niklas Luhmann.

...Die übliche Bewertung, die im Streit nur die Störung sieht, führt Luhmann darauf zurück, dass wir dabei bevorzugt an Anwesende oder Nahestehende denken. Nicht nur Familienfeste, auch komplette Familien können durch offenen Konflikt ruiniert werden. Für kleine und undifferenzierte Gruppen ist es daher eine sinnvolle Maxime, taktvoll und diplomatisch zu kommunizieren. Aber auch für eine konfliktscheue Gesellschaftsmoral zeigt der Soziologe durchaus Verständnis. Sie sei solange angemessen, wie die Gesellschaft auch ihrerseits in der Art einer Großfamilie organisiert ist. In Stammesgesellschaften schätze man die Nachgiebigkeit aber auch deshalb, weil es hier noch keine Richter gibt, die den Konflikt durch verbindliche Entscheidung beenden können. ...

Für die moderne und differenzierte Gesellschaft ist das kein Modell, und zwar deshalb nicht, weil ihre Differenzierung immer auch die Interessen und Perspektiven der davon betroffenen Gruppen und Teilsysteme erfasst - und damit die friedlichen und kampflosen Einigungsmöglichkeiten unter ihnen abbaut. Nicht nur Schichtungsstrukturen, auch die modernen Formen der Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Religion, Familienleben und Schulerziehung gelten daher als Konfliktquellen ersten Ranges. ...

Nach Luhmann kommt es hier vor allem darauf an, dass die Gesellschaft einerseits und die Kontakte unter Anwesenden und Nahestehenden andererseits auch voneinander getrennt werden. Hemmungen der Streitlust, die Anwesende auferlegen, können umgangen werden, wenn der Gegner abwesend ist oder gar persönlich unbekannt bleibt. So sind Wahrheitskonflikte unter Wissenschaftlern relativ einfach zu führen, weil ihr Medium ohnehin der Buchdruck ist. Begegnen die Streitenden sich dann auf irgendeinem Podium, sieht man an der gegenseitigen Schonung, die sie dort für angebracht halten, wie viel der Streit dem Umstand verdankt, dass er unter Abwesenden begonnen wurde. ...

Eine besonders effektive Form, Gegnerschaften zu pflegen, ohne Anwesende oder Nahestehende zu betrüben, sieht Luhmann in der Konkurrenz. Denn die Konkurrenten suchen ja gute und möglichst harmonische Beziehungen nicht zueinander, sondern zu dritten Personen, die sie für sich zu gewinnen suchen: zu den Kunden, zu den Wählern, zu den Arbeitgebern, die sie einstellen sollen. Diese Umleitung über einen Dritten erlaubt es zugleich, das Kampfergebnis als verdient anzusehen. Man hat nicht einfach im vermeinten Recht des Stärkeren über den Gegner triumphiert, sondern man hat sich als Fremdversteher, als Virtuose der Einfühlung in Publikumswünsche, als überlegener Wohltäter an Dritten bewährt. Vor allem aber müssen die Konkurrenten, da ihr Interessengegensatz von Dritten entschieden wird, keine Beziehungen zueinander suchen, und selbst wo solche Beziehungen aus anderen Gründen bestehen und andauern sollen, werden sie dadurch entlastet, dass die Zumutung, den Wettstreit verloren zu haben, von Dritten verantwortet wird. 

Niklas Luhmann, Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung, in: Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Interaktion - Organisation - Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Stuttgart 2015.


Nota. - Ein Loblied auf die bürgerliche Gesellschaft. Insofern sie nämlich Gesellschaft ist und nicht vorgibt, eine dem Höheren verpflichtete Gemeinschaft zu sein: Kampf aller gegen alle, aber so verfasst, dass, was im Privaten Laster wäre, in der Öffentlichkeit als Wohltat erscheint. 

Der springende Punkt: die Scheidung von privat und öffentlich. Sie ist eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft oder der Gesellschaft in specie: Es gibt einen Raum, wo sie alle miteinander zu tun kriegen  –  das ist am äußersten Ende die Wissenschaft  – , und einen Raum, wo jeder jedem andern aus dem Weg gehen kann  –  das sind auf der Gegenseite die eignen vier Wände und die Tür, die man hinter sich zumachen kann.

Die kapitalistische Gesellschaft ist darum noch nicht ganz bürgerliche Gesellschaft: Die Klassenspaltung, die ein öffentliches Verhältnis ist, reicht bis tief in die privatesten Verhältnisse hinein. 
JE


Montag, 21. September 2015

Völkerwanderung?

aus derStandard.at, 21. September 2015, 09:00

Aus globaler Sicht hat Migration nicht zugenommen 
Zwischen 2005 und 2010 war die Zahl der Migranten weltweit ähnlich hoch wie vor 15 Jahren – Auch Syrien-Konflikt ändert diesen Trend nicht

von Alois Pumhösel

Der Zerfall der Sowjetunion, das Ende des sowjetisch-afghanischen Kriegs und der Bürgerkrieg in Ruanda waren die Auslöser großer Migrationsströme zu Beginn der 1990er-Jahre. Später wurden sie von den Konflikten im Südsudan, der Masseneinwanderung von Menschen aus Simbabwe in Südafrika oder dem Zustrom von Arbeitern aus Indien, Nepal oder Bangladesch auf die Baustellen arabischer Staaten abgelöst.

Derartige Phänomene waren von 1990 bis 2010 Treiber der globalen Migration, nicht, wie man annehmen könnte, eine zunehmende Globalisierung. "Die globalen Migrationsbewegungen haben zwischen 1990 und 2010 keineswegs konstant zugenommen", erklärt Nikola Sander vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien. Mit ihrem Kollegen Guy Abel veröffentlichte sie im Fachjournal Science eine Studie, die, aufgeteilt in Fünfjahresintervalle, einem "Global Flow of People" nachgeht.
Klassischer Gastarbeiter war einmal

Zwischen 1990 und 1995 emigrierten demnach 41,5 Millionen Menschen. Im darauffolgenden Intervall waren es gut sieben Millionen weniger, bevor der Wert wieder anstieg und von 2005 bis 2010 erneut die 41,5 erreichte. Gemessen an der Gesamtbevölkerung der Erde sank der Anteil der Migranten pro Fünfjahresintervall damit von 0,75 auf 0,61 Prozent. Der gesamte Anteil der nicht im Geburtsland lebenden Menschen beträgt dagegen laut Uno etwa drei Prozent. Ein Fazit Sanders: "Mit der Globalisierung werden Migrationsbewegungen komplexer. Man verharrt nicht mehr so lange in einem Zielland." Der klassische Gastarbeiter, der nur einmal umzieht, ist selten geworden.
Die Zahlen, die erstmals globale Wanderungen quantifizieren, beruhen auf statistischen Modellen, die auf Daten der Uno aufbauen. In Sanders Studie sind auch Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) integriert, ein tatsächlicher Anteil von Flüchtlingen an der globalen Migration lasse sich aber schwer quantifizieren. Unter Berücksichtigung der UNHCR-Schätzung, wonach 2014 insgesamt 2,9 Millionen Menschen in ein anderes Land geflohen sind, geht Sander davon aus, dass der globale Flüchtlingsanteil unter 15 Prozent aller Migrationsbewegungen liege. Die Flüchtlingsbewegungen, die der Krieg in Syrien auslöst – die Hälfte der Landesbevölkerung von 22 Millionen ist auf der Flucht, davon der größte Anteil im Inland, vier Millionen in Camps in Nachbarländern -, seien dabei durchaus mit dem Bürgerkrieg in Ruanda Anfang der 1990er-Jahre vergleichbar. 

Communities ziehen andere an

"Es ist aber keineswegs so, dass sich mit diesem Krisenherd die Werte der globalen Migrationsbewegungen auf den Kopf stellen", sagt Sander. Nach Europa seien anfangs überwiegend eher gebildete Syrer gekommen, weil diese über die nötigen Ressourcen verfügten. Mittlerweile weite sich das angesichts der fehlenden Hoffnung auf ein Kriegsende auf weitere Bevölkerungsschichten aus. Ziel seien vor allem Länder mit bestehenden Communities.

Die traditionell großen Migrationsziele Nordamerika, Europa und Australien qualifizieren sich neben ihrer relativ stabilen politischen Situation und bereits vorhandener Diaspora natürlich auch mit wirtschaftlichen Faktoren. Auffällig sei, so Sander, dass keineswegs Menschen aus den ärmsten direkt in die reichsten Länder emigrieren. "Der globale Trend zeigt, dass Auswanderer die Einkommensleiter Stufe für Stufe hochsteigen." Menschen aus dem armen Indonesien gehen etwa nach Malaysia, ein typisches Transitionsland, wo sie mehr Wohlstand finden. Die Malaysier gehen dagegen ins reichere Singapur.
Freizügigkeit, Jobwechsel, Flucht

Laut Erhebungen, die sich auf Visa-Ausstellungen gründen, gibt es im OSZE-Raum drei große Gruppen von Migranten, erklärt Sander: Die eine resultiert aus der Freizügigkeit innerhalb der EU und kann keinem bestimmten Motiv zugeordnet werden. Ein zweiter großer Anteil besteht in Familienzusammenführungen. Ein deutlich geringerer Anteil basiert auf wirtschaftlichen Gründen, Jobwechsel oder Ausbildung. Flüchtlinge seien im Vergleich dazu eine kleine Gruppe.

"Auffällig ist aber, dass die Migration nach Europa relativ vielschichtig ist", erklärt Sander. Im Vergleich zu Australien oder Nordamerika, die eine stärkere Selektion betreiben, gibt es mehr Motive und mehr Herkunftsländer. Europas Einwanderungspolitik sei dagegen passiv. Auch in der Syrien-Krise werde nur reagiert und nicht mitgestaltet. Es gebe etwa keinen legalen Weg für gebildete Syrer, nach Europa einzureisen. "Auch die wenigen Rot-Weiß-Rot-Cards, die Österreich vergibt, gehen hauptsächlich an Sportler." Was fehlt? "Eine transparente Einwanderungspolitik." 

Link: Interaktive Grafiken zurück bis 1990



aus Der Standard, Wien, 20. September 2015, 12:00

Ferdinand Fellmann: 
"Viel falsches Bewusstsein im Spiel"
Ja, wir haben es mit einer Völkerwanderung zu tun, meint der deutsche Philosophieprofessor Ferdinand Fellmann
Interview von Georgios Chatzoudis

STANDARD: Professor Fellmann, Sie haben zuletzt einen Aufsatz veröffentlicht, in dem Sie konstatieren, dass der Blick auf die Geschichte seit der postmodernen Wende vor allem aus der Perspektive der Betroffenen erfolge. Durch diese Subjektivierung der Geschichte sei etwas verlorengegangen. Was denn?

Fellmann: Verlorengegangen ist die Distanz, die wir brauchen, um unsere gegenwärtige Lage realistisch einzuschätzen. Diese Distanz gewinnt man, wenn man sich an Ideen oder Werte hält, welche Epochen voneinander unterscheiden. Sicherlich kann es ergreifend sein, sich in den Standpunkt der Betroffenen zu versetzen, aber da bleibt man im Menschlich-Allzumenschlichen. Damit gelangt man nicht zu einem wirklichen Verständnis der Alterität, die vergangene Epochen von der Gegenwart trennt. Geschichtliche Wirklichkeit wird zur Fiktion.
STANDARD: Sie heben hervor, dass die Subjektivierung der Geschichte mit dem Lebensgefühl des postmodernen Menschen einhergeht. Läuft es auf eine Dichotomisierung hinaus – Emotionalität vs. Vernunft, Relativismus vs. Eindeutigkeit, hedonistisch vs. nüchtern?
Fellmann: Dichotomien sind so schlecht nicht wie ihr Ruf. Emotion und Intelligenz gehören im normalen Leben zusammen. Wenn aber das Emotionale zu dominant wird, ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass man mit Affektprogrammen allein das kulturelle Leben nicht gestalten kann. Die Folgen für das gegenwärtige Geschichtsbewusstsein sind, dass es dieses gar nicht mehr gibt. Es gibt nur noch Gegenwartsbewusstsein, das in die Vergangenheit projiziert wird. Zeitgeschichte, Zeitzeugen und Autobiografien bestimmen unsere Erinnerungskultur. Der Unterschied zwischen Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein entspricht jenem zwischen Erinnerung und Gedächtnis. 

Erinnerung setzt voraus, dass man selbst dabei war. Ich kann mich etwa daran erinnern, dass mir als Kind ein russischer Soldat Sonnenblumenkerne zu essen gegeben hat. Aber die erlebte Zeit entspricht nicht der geschichtlichen Zeit, die sich an den objektiven Daten orientiert. So der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Die politische Bedeutung des polnischen Einmarsches in Schlesien nach der Kapitulation habe ich erst viel später von den Historikern gelernt. Das macht das historische Gedächtnis aus, das noch wirksam bleibt, wenn sich niemand mehr an die Erlebnisse erinnern kann.
STANDARD: Im Deutschlandfunk haben Sie zuletzt die These aufgestellt, bei der Flüchtlingsbewegung handle es sich tatsächlich um eine neue Völkerwanderung. Was genau meinen Sie damit?
Fellmann: Der Unterschied zwischen Flüchtlingsströmen und Völkerwanderung liegt nicht in der enormen Anzahl von Menschen, die nach Europa kommen, sondern in der Qualität der Bewegung. In Analogie zur Völkerwanderung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ist die gegenwärtige Wanderung dabei, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Dass die Politiker das nicht anerkennen, hängt mit dem Mangel an historischem Bewusstsein zusammen. Unser Gegenwartsbewusstsein verzerrt unsere Wahrnehmung des Fremden. Wir verurteilen heftig fremdenfeindliche Ausschreitungen, und das mit Recht. Doch die meisten von uns wohnen und leben in Verhältnissen, in denen sie mit Ausländern nicht wirklich konfrontiert werden. Bei der Fremdeneuphorie der Intellektuellen ist viel falsches Bewusstsein im Spiel. Wir halten es für ein Zeichen der Toleranz, dass muslimische Mädchen in der Schule Kopftücher tragen dürfen, aber wenn unsere eigenen Töchter sich so anziehen müssten, bekämen wir es doch mit der Angst.
STANDARD: Wenn es nun diese neuzeitliche Völkerwanderung gibt, was bedeutet das für uns Europäer?
Fellmann: Meine Antwort lautet: Sein oder Nichtsein. Wir sprechen zwar von Integration, aber in Wahrheit bahnt sich eine Transformation unserer Kultur an, vor der wir panische Angst haben. "Angst essen Seele auf" gilt nun auch umgekehrt für uns. Wir werden mit Wertvorstellungen konfrontiert, die unserem Liberalismus widersprechen, etwa mit der konservativen Rolle der Frau in der Familie, um nur ein Beispiel zu nennen, das mit dem Islam zusammenhängt. Dem hat unser überzogener Individualismus und Subjektivismus wenig entgegenzusetzen. Die Säkularisierung und die Verwandlung von Gotteshäusern in Konsumtempel zeigen Parallelen zur Dekadenz der Oberschicht im Weströmischen Reich bei der ersten Völkerwanderung. Byzanz hingegen war durch seine gesellschaftlichen Strukturen resistenter. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, dass unsere Gesellschaft dekadent ist, aber es gibt doch Alarmsignale. Abschied vom Prinzipiellen, grenzenlose Freiheit durch Selbstverwirklichung, Liebe als Beziehungskiste, das sind alles Symptome dafür, dass unsere Demokratie in ein spätkulturelles Stadium eingetreten ist. Spätkulturen aber sind kaum in der Lage, auf Dauer dem Druck standzuhalten, der von institutionell gestützten Lebensformen außereuropäischer Kulturen ausgeht.
STANDARD: Welche Folgen sind zu erwarten?
Fellmann: Um diese Frage zu beantworten, müsste ich Prophet sein. Der Prophet gilt bekanntlich im eigenen Lande nichts, und schon gar nichts, wenn er so alt und konservativ ist, wie ich es nun einmal bin. Aber die wirklich revolutionären Ideen stammen immer von den Alten, die über die bloße Erinnerung hinaus ein historisches Bewusstsein entwickelt haben. Aus dieser Position der Vernunft, die den Subjektivismus übersteigt, kann ich so viel voraussehen: Europa wird durch die Wanderung der Völker aus Afrika und aus dem Nahen Osten wie damals das Weströmische Reich durch die Germanen in seinem Selbstverständnis neu geordnet. Nur müssen unsere Eliten zunächst einmal die Lage erkennen und die Sache beim Namen nennen. 

"Völkerwanderung" ist keineswegs nur eine Frage der Nomenklatur. Aus der richtigen Benennung ("Richtigstellung der Namen" ist ein Prinzip des Konfuzianismus, den ich sehr schätze) folgt die Bereitschaft, die eigenen Wertvorstellungen zu überdenken und an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Das muss nicht der Untergang des Abendlandes sein. Eher seine Wiederauferstehung aus den Ruinen unseres Lebensgefühls individueller Selbstverwirklichung, die in Wirklichkeit eine Flucht vor der Verantwortung gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit ist. 
Ferdinand Fellmann, Jg. 1939, promovierte und habilitierte sich bei Hans Blumenberg. Von 1980 bis 1993 Professor für Philosophie an der WWU Münster, von 1993 bis 2005 an der TU Chemnitz. Das hier gekürzt publizierte Interview erschien zuerst auf L.I.S.A, dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung (www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de), dessen Online-Direktor Georgios Chatzoudis ist.

Nota. - Das Völkerrecht ist im 17. Jahrhundert entstanden, aus gegebenem Anlass: Der 30jährige Krieg hatte Mitteleuropa verwüstet und die Staaten des Kontinents tief erschüttert. Seine Pfeiler sind darum Unverletz-lichkeit der Grenzen und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. 

Zu einer Völkerwanderung war es damals aber nicht gekommen, dazu hatten zu wenige überlebt. Wenn es nun aber stimmt, dass uns eine Zeit der Völkerwanderung bevorsteht, dann sind, wie in diesen Tagen, die Grenzen, und seien es die Außengrenzen Europa, eben nicht unverletzlich, und die heilige Kuh Nichteinmischung muss vom Eis: Der militärische Eingriff im Irak war richtig, und ein rechtzeitiger Eingriff in Syrien wäre richtig gewesen. –  Oh, das wird ein Geschrei geben um das Völkerrecht! Aber erst hinterher, wenn sich nicht mehr übersehen lässt, dass es sich um eine Völkerwanderung gehandelt haben wird. Heute lesen wir noch, die Migratiosnsströme hätten aus globaler Sicht gar nicht zugenommen. (1618 wusste man in Prag und Wien auch noch nicht, dass der Westfälische Frieden erst 1648 geschlossen werden würde.)
JE 


Sonntag, 20. September 2015

Der Untergang einer Zivilisation.

aus Die Presse, Wien, 20. 9. 2015                                                  Invasion der Seevölker in ägyptischer Darstellung

Die griechische Wirtschaft ist am Ende
Im zwölften Jahrhundert v. Chr. kam es im östlichen Mittelmeerraum zum Zusammenbruch einer florierenden Staatenwelt. Die Geschehnisse lassen Parallelen zur Gegenwart erkennen.

von Martin Kugler

Die griechische Wirtschaft ist am Ende. In Libyen, Syrien und Ägypten kam es zu revolutionsartigen Aus-schreitungen, die Türkei befürchtet, in die Konflikte hineingezogen zu werden. Jordanien ist überfüllt mit Flüchtlingen, der Iran übt sich in Drohgebärden, im Irak geht es drunter und drüber. Sie glauben, dies seien ein paar Schlagzeilen aus aktuellen Nachrichten? Das stimmt zwar, aber genau so war die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren“, schreibt der US-Archäologe Eric H. Cline in seinem eben auf Deutsch erschienenen Buch „1177v. Chr.– Der erste Untergang der Zivilisation(336 S., Theiss, 30,80 €). Die Jahreszahl ist symbolisch gemeint: Damals blieben die Ägypter (als einziges Volk) siegreich über die sogenannten Seevölker, die im ganzen östlichen Mittelmeerraum eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten.


In diesen Jahren gingen mächtige Reiche zugrunde: Hethiter, Kanaaniter, Mykene, Zypern, auch Troja, Megid-do oder Ugarit fielen wüst. Es war das jähe Ende „eines der goldenen Zeitalter der Weltgeschichte – als früheste Epoche, in der es eine florierende globalisierte Wirtschaft gab“, so Cline. Die Reiche standen mehrere Jahrhun-derte lang in engem Kontakt, sie trieben Handel, unterhielten diplomatische Beziehungen und verhängten auch schon einmal ein Wirtschaftsembargo.
Binnen weniger Jahrzehnte brach dieses System zusammen, und zwar, wie Cline ausführt, nicht etwa, weil die Seevölker so übermächtig gewesen wären, sondern wegen einer Verkettung vieler Umstände: Es gab Serien von Erdbeben, Dürrekatastrophen, Aufständen, Invasionen. Jeder Faktor für sich allein wäre keine ausreichende Erklärung für den Zusammenbruch, meint Cline. Aber die Faktoren hätten sich wohl gegenseitig verstärkt und so in die Katastrophe geführt, mutmaßt er.
Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, es zeigen sich aber wiederkehrende Muster – etwa der Aufstieg und Fall von Zivilisationen. Es gibt kein überzeugendes Argument, dass das mit unserer „westlichen“ Kultur anders sein sollte. „Es könnte durchaus sein, dass wir heute anfälliger sind, als wir vielleicht glauben“, so Cline. Er zieht aber auch eine tröstlichere Lehre aus der Geschichte: Nach dem Zusammenbruch habe es Raum für Neues, für innovative Ideen gegeben, etwa für das Alphabet, die monotheistische Religion oder die Demokratie.
Darüber nachzudenken, anstatt angesichts der heutigen Misere in Trübsal zu verfallen, ist jedenfalls lohnend!
Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum-Magazins“.



Donnerstag, 17. September 2015

Industrie und Verkehr sind nicht die Hauptursache von Luftverschmutzung.


In der FAZ von heute können Sie über die Ursachen der weltweiten Luftverschmutzung lesen:

"In der Studie, die kürzlich in der Zeitschrift „Nature“ erschien, benennen Forscher vor allem heimische Kleinfeuer als weltweiten Hauptverursacher für Smog. Dazu zählen Dieselgeneratoren, kleine Öfen und offene Holzfeuer, die besonders von den Menschen in Asien zum Kochen und Heizen verwendet werden. Damit ist nicht wie bisher vermutet die Industrie und der Verkehr die Hauptverursacher für Emissionen. Das überrascht auch Johannes Lelieveld: 'Meist wird ja angenommen, dass Industrie und Verkehr die schlimmsten Luftverschmutzer sind, aber weltweit ist das offenbar nicht der Fall', resümiert der Atmosphärenchemiker."



Dienstag, 15. September 2015

Wir schaffen das.


Natürlich schaffen wir das, weil wir es schaffen müssen; wir haben ja keine Wahl.
Das Unwägbare ist nur, wie lange es dauern wird, bis es alle eingesehen haben.


Montag, 14. September 2015

Varoufakis lobt Merkelland.


Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung von diesem Wochenende veröffentlicht unter dem Titel Die moralische Nation einen langen Beitrag, in dem der lange als Deutschenfresser gescholtene Ianis Varoufakis die Bundesrepublik für ihre Flüchtlingspolitik lobt.

Hier ein kurzer Auszug:

...Ein Land jedoch ragte heraus und bewies moralische Führungskraft in dieser Angelegenheit: Deutschland. Der Anblick Tausender von Deutschen, die unglückliche Flüchtlinge willkommen hießen, welche von verschiedenen anderen europäischen Ländern abgewiesen worden waren, war etwas, was man würdigen und woraus man Hoffnung schöpfen konnte. Hoffnung, dass Europas Seele nicht gänzlich verschwunden sei. Kanzlerin Merkels entspannte Führung in dieser Sache, die großzügige Haltung selbst der sonst so misanthropischen deutschen Boulevardzeitungen gegenüber den ankommenden Flüchtlingen korrigierte Europas Versagen angesichts der humanitären Krise. ...


...Natürlich lässt sich auf empirischem Wege nicht beweisen, dass die deutsche Solidarität mit den Flüchtlingen Kantschen Prinzipien folgt und nicht dem bloßen Versuch, sich besser zu fühlen, die anderen Europäer bloßzustellen und die eigene Bevölkerungsentwicklung anzukurbeln. Wie auch immer, ich mache mir diese zynischen Erwägungen nicht zu eigen. Nachdem ich gesehen habe, wie zahlreich die Deutschen den Flüchtlingen geholfen haben, die von anderen Europäern abgeschoben wurden, bin ich davon überzeugt, dass hier etwas am Werk ist, was dem Kantschen Denken ähnelt. ...


Sonntag, 13. September 2015

Das neue Deutschland


Zwei lange Beiträge vom selben Autor in wenigen Tagen - nein, das ist keine persönliche Sympathiekundgebung, sondern allein der Sache geschuldet. Wenn sich Hr. Münkler demnächst schriftlich zu Genderfragen äußern sollte, werde ich ihm auch das honorieren, wenn es auch von der Sache her nicht wirklich dringlich ist.
JE

aus Tagesspiegel.de, 13. 9. 2015, 15.19 Uhr

Macht der Moral


Von Herfried Münkler

Spricht man in diesen Tagen mit Vertretern der ausländischen Presse in Berlin, dann ist vor allem von dem widersprüchlichen und verwirrenden Bild die Rede, das Deutschland in ihrer Sicht während der letzten Monate geboten habe.

Auf der einen Seite ist da das strenge, ja geradezu hartherzige Deutschland bei den Verhandlungen über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland und auf der anderen Seite ein Deutschland, das als einziges EU-Land auf die katastrophale Situation der Flüchtlinge in Ungarn und Mazedonien reagiert und sie in einem Akt buchstäblich grenzenloser Großherzigkeit ins Land gelassen hat.

Diese Verwunderung ist nicht aufs Regierungshandeln beschränkt: einerseits eine Gesellschaft, in der die Redewendung von den „faulen Griechen“, die jetzt „den Gürtel enger schnallen müssen“, durchaus mit beifälliger Zustimmung quittiert worden ist, und andererseits eine Gesellschaft, die Flüchtlinge empfängt, als handele es sich um eine nationale Sportequipe, die gerade einen großen Titel errungen hat. Man werde, so die ausländischen Journalisten, aus Deutschland nicht schlau.

Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.

Selbstverständlich sagt dieses Erstaunen auch etwas über die Beobachter und nicht nur über Deutschland aus, denn gerade bei der Griechenlandrettung hat sich die Bundesregierung durchaus solidarisch gezeigt. Im Unterschied zu Frankreich und Italien wäre sie vom Zusammenbruch der griechischen Banken nur am Rande getroffen worden. Viel weniger als die französische und die italienische gründete sich die deutsche Solidarität auf eigene Interessen. Deswegen konnte sie auch den Grexit ins Spiel bringen.

Aber deswegen handelte es sich auch sehr viel mehr um Solidarität als um ökonomisches Kalkül. Und ansonsten hat die Bundesrepublik schon das gesamte Jahr über mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen europäischen Länder zusammen. Die Kontrastbeschreibung Deutschlands, die als so verwirrend und widersprüchlich bezeichnet wird, zeigt vor allem die Klischees, die im Deutschlandbild der Nachbarn immer noch virulent sind. Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.

Und doch ging es den Menschen, die in München, Frankfurt und Dortmund zu den Bahnhöfen eilten, um die ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heißen, nicht wesentlich darum, das Deutschlandbild des Auslands zurechtzurücken. Vielmehr waren sie Akteure in einem innerdeutschen Kampf um das dominante Bild des Landes. Nicht brennende Asylbewerberheime, sondern Willkommensplakate, nicht Pegida-Demonstranten, sondern aufgeschlossene und weltoffene Menschen sollten für Deutschland stehen – und das haben die Begrüßungsdemonstranten tatsächlich geschafft.

Wenn ein englischer Wissenschaftler danach von einer Hippiekultur in Deutschland sprach, dann hat er von den politischen Kämpfen, die hier um die Deutungshegemonie ausgefochten werden, nichts begriffen. Es ging jetzt vor allem darum, dem rechtsterroristischen Untergrund, der gezielt und systematisch Asylantenheime in Brand gesteckt hatte, nicht die Macht der Bilder zu überlassen. Gegen die menschenverachtenden Zeichen der Abweisung haben sie die Symbole des Willkommens gesetzt. Ihnen dürfte durchaus klar gewesen sein, dass mit einem freundlichen Empfang die Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft noch lange nicht erfolgt ist. Die „Mühen der Ebene“, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, stehen den Deutschen noch bevor, und die werden langwierig und mit Enttäuschungen gespickt sein: Enttäuschungen für die Ankömmlinge, denen Deutschland wie das Gelobte Land vorgekommen sein mag, aber auch Enttäuschungen für die Aufnahmegesellschaft, weil sich die Flüchtlinge keineswegs so umstandslos anpassen und integrieren werden, wie sich das mancher vorgestellt haben dürfte.

Die Bundesregierung hat beim Flüchtlingsproblem einen Führungsanspruch bekommen, den sie gar nicht angestrebt hat

Die Bilder des Willkommens werden dann als Zeichen der Schadenfreude gegen Deutschland gewandt werden. Alle, die jetzt durch diese Bilder beschämt worden sind, werden sich dann obenauf fühlen und ihre jetzige Beschämung mit Häme zurückzahlen. Insofern ist Deutschland auch eine Selbstverpflichtung eingegangen: die, sein Bestes zu geben, um die Integration der Flüchtlinge hinzubekommen.

Dies hat Deutschland auch politisch verwundbar gemacht. Repräsentiert durch die Bahnhofsdemonstranten, hat das Land ein Versprechen abgelegt, das kaum einzuhalten sein dürfte. Das hat bei manchem zu einer skeptischen Distanz gegenüber den Euphorikern geführt, und vermutlich hatte das auch besagter Engländer im Sinn, als er von der Hippiekultur in Deutschland sprach: Aus einer kaum zu meisternden Herausforderung wird ein Freudentanz gemacht; wo ernste Sorgen durchaus angebracht sind, wird leichtsinnige Freude inszeniert.

Ob diese Begrüßung ein erster Schritt bei der Traumatabearbeitung der Angekommenen sein könnte, mag dahingestellt bleiben. Sie verschafft freilich der deutschen Regierung politische Spielräume, die sie vorher nicht gehabt hat: zum einen gegenüber den anderen Regierungen der EU, sich doch noch in Richtung verbindlicher Aufnahmeregeln zu bewegen. Zum anderen im Hinblick auf die Flüchtlinge aus dem Westbalkan, die jetzt in großer Zahl und beschleunigtem Tempo wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können.

Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft

Das haben die Willkommensdemonstranten vermutlich nicht beabsichtigt, aber es gehört auch zu den Folgen dieser Szenen: dass die Bundesregierung bei der Bearbeitung des Flüchtlingsproblems einen Führungsanspruch bekommen hat, den sie eigentlich gar nicht angestrebt hat. Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft, aber das verpflichtet die Regierung auch dazu, mit diesem Kredit zu wirtschaften. Man wird es ihr verübeln, wenn sie ihn verspielt.

Der Ansehensgewinn Deutschlands hat nämlich noch einen weiteren Einflussgewinn der Bundesregierung in Europa zur Folge. Dazu hat die Kanzlerin mit der Entscheidung, das Registrierungsverfahren nach dem Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere Formalitäten einreisen zu lassen, entscheidend beigetragen. Die säuerlichen Reaktionen einiger europäischer Regierungen darauf zeigt, dass ihnen die Folgen dessen für die Verteilung der politischen Gewichte in Europa schnell klar geworden sind.

Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in humanitären Fragen geworden, und das heißt, dass sie zum einflussreichsten Interpreten der europäischen Werte geworden ist. Das war die politische Schwachstelle der deutschen Politik, wie sich das während der Griechenlandkrise gezeigt hat. Die Bundesrepublik hatte zwar große ökonomische Macht, aber kaum moralischen Kredit. Den hat sie jetzt.

Freilich muss die Führungsrolle in der EU, die Deutschland nach der Ukraine- und der Griechenlandkrise nun auch in der Flüchtlingskrise zugefallen ist, auch ausgefüllt werden. Die Reaktion vom letzten Wochenende, bei der Deutschland das Problem zeitweilig löst, indem es dessen Hauptlast selbst übernimmt, lässt sich nicht beliebig wiederholen und ist nur als Notmaßnahme in einer besonderen Notsituation anzusehen. Und auch eine Quotenregelung innerhalb der EU kann nur ein Zwischenschritt sein, wenn, womit zu rechnen ist, die Migrationsbewegung aus dem Nahen Osten und Afrika weiter anhält. Die Euphorie wird sich bei der Arbeit an diesen Problemen ebenfalls schon bald als ein bloßer Zwischenschritt erweisen – allerdings als ein wichtiger, der die Lage grundlegend verändert hat.


Nota. - Stelln Sie sich das bloß mal vor: Sie könnten eines Tages sagen, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, und es ist so harmlos, als würde  - sagen wir: ein Uruguayer so reden!
JE

Mikroaggressiv verletzlich.

aus NZZ am Sonntag, 13. 9. 2015

Bitte nicht schütteln
Statt sachlich zu diskutieren, werden in öffentlichen Debatten immer häufiger verletzte Gefühle geltend gemacht. Die Radikalsensiblen geben sich dabei progressiv. Doch tatsächlich sind sie eine Bedrohung für die freie Gesellschaft.

von Barbara Höfler

Roberto Blanco sang 1972 «Ein bisschen Spass muss sein». Unter Spass verstand der Schlagersänger, Franz Josef Strauss beim CSU-Parteitag zuzurufen: «Wir Schwarzen müssen zusammenhalten!» Jetzt hat der Spass ein Loch. Ein CSU-Politiker nannte Blanco in einer Talkshow einen «wunderbaren Neger». Neger. N-Gate. Rücktrittsrufe. Völlig überraschend geriet anderntags noch einer unter Nazi-Verdacht. Blanco selbst, der kommentierte: «Ich habe mit Neger kein Problem. Ich fühle mich weder beleidigt noch verletzt.» Bamm!

Die anderen sind in der Causa aber mittlerweile alle beleidigt und verletzt: Talkshow-Moderator, Zuschauer, Faschisten, Afrikanisten, Schwarze, Weisse und natürlich die äusserst reizbare Internet-Crowd. «Sprache ist eine Waffe», sagte Kurt Tucholsky. Mit dem N-Wort wird heute jeder zum Bombenleger. Zum Aggressor gegen die Menschlichkeit, die sich zunehmend als Überempfindlichkeit definiert, wie es scheint.

Die Allersensibelsten richten in sozialen Netzwerken ernsthaft darüber, ob Roberto Blanco das trojanische Pferd der Rassisten ist. Der Faschismusgehalt der Aussage des bayrischen Innenministers Joachim Herrmann wird dagegen vergleichsweise lax überprüft. In der Talkshow zitierte Herrmann das böse Wort eigentlich nur aus einer Umfrage-Zuspielung kurz vorher. Wer ihm Rassismus vorwerfen will, könnte sich auch mit der Ausländerpolitik beschäftigen. Aber das entspricht nicht dem Niveau zeitgenössisch geführter Diskussion.

Konflikte, so scheint es, werden heute immer weniger mit harten Argumenten ausgetragen. Sie geraten stattdessen zunehmend zu hysterischen Gesinnungsdebatten, deren Gegenstand nicht mehr die Sache ist, sondern die Gesinnung und wer wen damit wie stark in seinen Gefühlen verletzt. Gewonnen hat, wie im Sandkasten, wer als Erster schreit.

> Schon vor ein paar Jahren verwandelten sich bei der Frage, ob der «Negerkönig» zum Schutze zarter Kinderseelen aus Pippi Langstrumpf gelöscht werden muss, liberale Bücherleser in blutrünstige Hyänen. Jetzt erleben wir die Steigerungsform dieser Tendenz zur völligen Übertreibung: statt Wut nun Gekränktsein als Trumpf.

Opferemotion

Mit Sätzen wie «Ich bin enttäuscht von dir» oder «Es verletzt mich, dass du...» werden Opferemotionen artikuliert und wird der andere in die Täterrolle gezwungen. Raus geht’s nur noch per Entschuldigung, die wiederum ein Schuldeingeständnis ist. Schneller kann man eine Diskussion nicht gewinnen. Schneller verlieren auch nicht.

In den Sprachgemetzeln der Gegenwart geht es nicht mehr nur um einzelne Tabuwörter. Tabu sind heute ganze Themenkomplexe, da nur noch emotional, also gar nicht mehr diskutierbar: Homöopathie, sämtliche Gender-Fragen, Siedlungspolitik Israels, Asylpolitik der EU, Tierschutz, Klimawandel, Jeans aus Kambodscha. Je kleiner die Gruppe, die sich dabei angegriffen fühlt, umso berechtigter wirkt ihr Ruf nach Schutz durch die Gemeinschaft – sprich: nach Sanktion.

Die Supermarktkette Aldi nahm Anfang des Jahres eine «1001 Nacht»-Seife mit Moschee vorn drauf aus dem Sortiment, Lego einen Bausatz «Jabba’s Palace» aus der «Star Wars»-Kollektion, der der Hagia Sophia in Istanbul ähnelte. Verletzung der religiösen Gefühle der empörten muslimischen Minderheit. Der «Hart, aber fair»-Moderator Frank Plasberg wiederholte diese Woche eine Folge – als Neudreh. Beim ersten Versuch im März hatte er sich nach dem Geschmack von Frauenverbänden zu stark über die Gender-Forschung amüsiert.

Die Splittergruppe der Transsexuellen dagegen wartet derzeit noch auf Ausgleich für die Kränkung durch Feministinnen, die mit «Frau» immer nur Frauen meinen, die schwanger werden können. Es gehört dazu, dass die verletzte Partei ihrem Hass dann in möglichst beleidigender Weise freien Lauf lassen darf. So kreischt eine Trans-Bloggerin: «Wenn dein Feminismus zu engstirnig ist, um unsere Perspektive mitzudenken: Get your shit done!»

Noch mehr Sprachregelungen würden hier aber kaum zur Deeskalation beitragen. Sie übererfüllen ihren Zweck bereits: Statt für mehr Verhandlungssicherheit sorgen sie in ihrer schieren Masse oftmals eher für Verhandlungsunfähigkeit. Dazu warf sich gerade in einer Harakiri-Aktion «Die Zeit» mit dem Titel «Was man nicht mehr sagen darf» in die Schlacht. Tenor: Wo alle kommunikative Schonung fordern, werden Sprechverbote zu Denkverboten, das Sich-gekränkt-Geben zum politischen Mittel. «Die entscheidende Macht hat nicht, wer spricht, sondern wer andere vom Sprechen abhalten kann», so der Autor Jens Jessen. Oder mit anderen Worten: Meinungsfreiheit muss eine Demokratie aushalten können. Wenn nicht, hat sie ein Problem.

Das Problem tritt in den USA, wo alles bigger und meist auch etwas früher ist, bereits klarer zutage. Das Magazin «Atlantic» beobachtete unlängst eine Institutionalisierung des Gekränktseins als Machtinstrument. Ausgerechnet am Hort der konkurrierenden Meinungen und Theorien, an der Universität, fordern Studenten immer öfter, von unliebsamen Worten und Ideen bitte verschont zu werden. Harvard-Studenten baten ihre Jura-Professoren etwa, die Rechtslage in Vergewaltigungsfällen aus dem Curriculum zu streichen – und auch das Wort «to violate». Beides verletzt die Gefühle der angehenden Juristen zu stark. Vergewaltigungsopfer müssten in den USA demnach, so ist zu befürchten, künftig ohne Gerichte auskommen.

Ende August verweigerten die Studenten der Duke University North Carolina die Lektüre eines Comics der Cartoonistin Alison Bechdel («Fun Home»). Es kommen darin Nackte vor. Zu «pornografisch». Klassiker der Weltliteratur wie «The Great Gatsby» von Scott Fitzgerald können nicht mehr ohne Warnung vor «domestic violence» besprochen werden: Jemand könnte traumatisiert werden.

Wo der Opferdruck der Hypersensiblen die freie Lehre nicht beeinträchtigt, regelt er die freie Rede auf dem Campus. Microaggressions lautet das Stichwort. 1954 waren Alltagsrassismen gegen Schwarze damit gemeint. Heute listet ein Merkblatt aus dem Büro des Präsidenten der University of California etwa den Satz «I don’t believe in race» auf. Man leugne damit «Erfahrung und Geschichte der rassischen/ethnischen Identität». «America is the land of opportunity» darf man auch nicht sagen. Damit unterschlägt man die Rolle von Rasse und Geschlecht beim Erfolg. An einer Uni in Massachusetts wurde derweil die Aktion einer asiatischen Minderheit zum Thema microaggressions abgebrochen. Aussagen wie «Aren’t you supposed to be good at math?» waren, wenn auch nur als Übung gemeint, einzelnen Studenten zu mikroaggressiv.

Aus dem Ruder gelaufen

Eine ursprünglich gute Sache ist hier völlig aus dem Ruder gelaufen: die «political correctness» der achtziger Jahre. Ging es dabei früher um eine gerechtere Gesellschaft und die Emanzipation von Randgruppen, geht es den Radikalsensiblen heute nur noch um Macht und persönliches Wohl. Ein «rachsüchtiges Protektorat» habe sich ausgebildet, so der «Atlantic», das nicht nur ständig Rücksichtnahme für sich selbst fordere, sondern auch die Bestrafung aller Andersdenkenden. An der Uni Michigan wurde ein Student, der einen Witz über microaggressions machte, von einer Gruppe weiblicher Furien heimgesucht, die seine Haustür mit Eiern, Hotdogs und der Botschaft «Everyone hates you, you violent prick» versahen. An der HU Berlin versuchen Soziologiestudenten seit Monaten den Politologen Herfried Münkler loszuwerden, indem sie im «Münkler Watch» nach jeder Vorlesung dessen angeblich sexistische und rassistische Äusserungen bloggen.

Was hier vor sich geht, ist kaum anders als eine kollektive Verhaltensstörung zu beschreiben: zwanghaftes Schwarz-Weiss-Denken, Rückschluss von eigenen negativen Gefühlen auf die Realität, mentales Filtern, Katastrophieren und übertriebenes Verallgemeinern.

Liegt’s an der Überbehütung durch zunehmend sicherheitsneurotische Eltern? Sorgt Facebook für Verdummung, wo Parolen mehr Anerkennung bringen als Abwägen und differenzierte Meinung? Möglicherweise funktioniert der Rückzug auf spontane Emotionen auch als Mittel der Komplexitätsreduktion. Wie auch immer: Die Verhaltensstörung muss schleunigst therapiert werden. Denn es verdirbt dabei nicht nur der Charakter. Demokratie ist ebenfalls nur mit Kritikfähigkeit, Urteilskraft und dem Aushalten mehrerer Wahrheiten zu machen. Alles andere wäre microaggressive der ganzen Gesellschaft gegenüber.

Freitag, 11. September 2015

Homo vagans, II.

aus nzz.ch, 5.9.2015

Über Migration und Migranten
Ein Blick in die Geschichte menschlicher Wanderungsbewegungen
Die Menschheit ist durch Migration zu dem geworden, was sie heute ist. Das sollte in der gegenwärtigen «Flüchtlingsdebatte» nicht vergessen gehen.

von Herfried Münkler

Über die längste Zeit ihrer Geschichte ist die Menschheit migriert. Wenn das Ursprungsgebiet des Menschen irgendwo in Ostafrika zu suchen ist, so waren es weitreichende Migrationsbewegungen, die zur Besiedlung des gesamten Globus geführt haben. Diese Besiedlung hat sich über Jahrtausende hingezogen, und auf ihren Wanderungen haben die Migranten ihr Aussehen, ihren Charakter und ihre Lebensweise verändert: Immer wieder aufs Neue hat sich der Mensch, «das nicht festgestellte Tier», wie Nietzsche ihn genannt hat, den jeweiligen klimatischen und ökologischen Gegebenheiten angepasst, in die er eingewandert war und in denen er sich nun behaupten musste. Das Menschengeschlecht ist durch Migration zu dem geworden, was es heute ist.

Der Traum vom Gleichgewicht

In der jüngeren Geschichte ist verschiedentlich die Vorstellung aufgekommen, nunmehr sei die Zeit der Migration zu Ende und das Leben der Menschen sei stationär geworden. Deswegen, so wurde geschlussfolgert, sei es an der Zeit, eine neue, als endgültig angesehene politische und gesellschaftliche Ordnung zu entwerfen, die auf einer Reihe von Gleichgewichtsannahmen begründet wurde. Im 18. Jahrhundert war das verstärkt der Fall: Fast alle normativen Ordnungsvorstellungen der Aufklärer beruhten auf der Annahme eines Gleichgewichts, und dabei sahen sie dessen Infragestellung durch nachhaltige Migrationsbewegungen nicht vor. Die aktuelle Debatte über Flüchtlinge und Asylbewerber zeigt, in welchem Masse wir auch heute im Bann solcher Gleichgewichtsvorstellungen stehen und wie schwer es uns fällt, dynamische Veränderung durch Migration zu denken.

Aber schon einige Jahrzehnte nach dem Höhepunkt des homöostatischen Systemdenkens entstanden die Migrationsströme des 19. Jahrhunderts, als mehr als fünfzig Millionen Europäer den alten Kontinent verliessen und nach Amerika auswanderten. Perioden der Stagnation und solche dynamischer Migration haben einander also immer wieder abgewechselt. So wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Europa die Migration mit politischen Mitteln eingedämmt, etwa durch die Einführung des Reisepasses, mit dem der Staat die Kontrolle über seine Grenzen erlangte. Im Zweiten Weltkrieg und noch danach wurden gewaltige Bevölkerungsverschiebungen und Flüchtlingsströme in Gang gesetzt, mit denen die Zusammensetzung der Bevölkerung den jeweiligen Herrschaftsvorstellungen angepasst werden sollte. Daran anschliessend gab es in Europa über vier Jahrzehnte relativ wenig Migration. Das war eine Folge der Systemgrenze, die sich als Eiserner Vorhang mitten durch Europa zog. Dementsprechend traf die Fluchtbewegung der 1990er Jahre aus dem Balkan Westeuropa wie ein Schock.

Schockierend sind die neuen Flüchtlingsströme nicht zuletzt darum, weil sie die Vorstellung von der Steuerbarkeit der Migration zerstört haben. Wo Kriege oder Naturkatastrophen solche Ströme auslösen, erweist sich die Idee ihrer Lenkbarkeit und Kontrolle schnell als Illusion. Aber so schnell will und kann man die Vorstellung der Steuerung nicht aufgeben: Man will nicht, weil fast alle Zukunftsvorstellungen der wohlhabenden Gesellschaften daran hängen – und man kann nicht, weil die Funktionsmechanismen der Gesellschaften eher inflexibel sind und auf einen grösseren Ansturm von Migranten nur schwer umgestellt werden können.

Je komplexer und normativ anspruchsvoller eine Gesellschaft ist, desto verwundbarer ist sie durch migrantische Veränderungen. Mit statistischen Extrapolationen bis weit ins nächste Jahrzehnt erwartungssicher gemacht, nimmt sie den Zustrom von Migranten als Gefahr und nicht als Chance wahr. Die von den Flüchtlingen hervorgerufene Angst ist bis in die Mitte unserer Gesellschaften vorgedrungen, die so gut wie nicht stressresistent ist. Man kann es auch einfacher formulieren: Es sind satte, zumeist überalterte Gesellschaften, die sich einer als bedrohlich empfundenen Herausforderung stellen müssen, aber nicht stellen wollen.

Sesshafte und Nomaden

Um das nachvollziehen zu können, lohnt sich ein nochmaliger Blick in die Geschichte menschlicher Wanderungsbewegungen. Über Jahrzehntausende waren unsere Vorfahren Jäger und Sammler, was heisst, dass sie, wenn sie nicht im Regenwald, sondern in Steppen- und Präriegebieten lebten, den jahreszeitlichen Wanderungen der grossen Herden folgten und dort in Konkurrenz mit Raubtieren ihre Nahrung suchten. Das änderte sich erst mit der neolithischen Revolution vor 10 000 bis 12 000 Jahren, also der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, in deren Folge grössere Menschengruppen sesshaft wurden.



Mit der Entstehung bäuerlicher Wirtschaftsweisen entstand ein neues Verhältnis zum Nomadismus: Aus einer zuvor selbst praktizierten Lebensform wurde er zu einer Bedrohung. Er wurde als räuberisch und zerstörend wahrgenommen, und dementsprechend waren die Bauern bestrebt, die wandernden Herden und Horden von ihren Feldern und Bewässerungssystemen fernzuhalten. Sie verteidigten ihr Territorium, aber um das zu können, bedurften sie der herrschaftlichen Organisation. So entstanden die Frühformen von Staatlichkeit, und in den Bauernkulturen entwickelte sich eine notorische Aversion gegen alles Fremde.

Orte der Zivilisierung

Freilich, je effektiver die Bauern produzierten und je besser sie gegen die räuberischen Nomaden geschützt wurden, desto grösser wurden die Städte, die inmitten der Dörfer entstanden, und diese Städte wurden – durch Zustrom von Fremden – zu Stätten der Veränderung und Innovation. Zugleich erwiesen sie sich als Orte der «Zivilisierung» des Fremden: Aus nomadischen Räubern wurden Kaufleute und Händler, die einen kontinuierlichen Beitrag zum Anwachsen von Wohlstand und Reichtum leisteten. Ist das bäuerliche Land auf Dauer und Beharrung ausgerichtet, so ist die Stadt ein Zentrum der Bewegung und Veränderung, sie wird zum Impulsgeber einer langsamen und schrittweisen «Modernisierung» des bäuerlichen Wirtschaftens. Vom Hochmittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung glich die Stadt-Land-Beziehung einem homöostatischen System, das nur durch Kriege und Naturkatastrophen aus dem Gleichgewicht geriet. Veränderung und Beharrung hielten einander die Waage. Zumindest den Romantisierungen, die dieses System überlagerten, unterliegen wir bis heute.

Was in dieser Wahrnehmung freilich in den Hintergrund gedrängt worden ist, ist die innovative Rolle des Fremden, das wie ein Generator des Neuen gegen Ermüdungsprozesse und lähmende Selbstzufriedenheit wirkt. Es sind vor allem die Fremden, die sozioökonomische Erstarrung verhindern – sei es, weil sie Neues mit sich bringen, sei es, weil sie hungrig sind und fleissiger arbeiten als die meisten, die sich seit langem im Bestehenden eingerichtet haben. Viele kommen, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen, aber um dieses zu erreichen, müssen sie mehr und besser arbeiten als die Alteingesessenen. Für die am unteren Rand der Gesellschaft Stehenden sind diese Fremden eine Bedrohung, für die Gesellschaft als Ganzes sind sie dagegen eine Revitalisierung. Der aggressive Widerstand gegen die Fremden kommt deswegen zumeist aus dem unteren Segment der Gesellschaft, vor allem aber kommt er von denen, die kurzfristig denken, weil sie selbst von der Hand in den Mund leben. Dagegen sind die, die langfristiger denken und um die Bedeutung des Innovativen wissen, sehr viel offener gegenüber dem Fremden.

Ängste sind nicht nützlich

Lassen sich diese Beobachtungen für den Umgang mit den gegenwärtigen Herausforderungen durch die Flüchtlinge aus dem Vorderen Orient und dem subsaharischen Afrika fruchtbar machen? In Grenzen jedenfalls kann man das annehmen, etwa beim Blick auf staatliche Sozialleistungen, die in modernen Gesellschaften eine ähnliche Funktion haben wie Grund und Boden in der alten bäuerlichen Gesellschaft. Solche Leistungen sind einerseits die Voraussetzung dafür, dass die Neuankömmlinge, die auf lange Zeit bleiben werden, die Kraft und Initiative entwickeln, die sie zu einer Bereicherung und Erneuerung unserer Gesellschaft machen und in ihnen das Empfinden nähren, dass sie der aufnehmenden Gesellschaft etwas zurückgeben sollten.

Aber diese Leistungen dürfen wiederum nicht so beschaffen sein, dass man sich darin auf Dauer einrichten kann, dass sie, wenn auch auf niedrigem Niveau, «satt machen» und dazu führen, dass die positiven Effekte der Neuankömmlinge durch deren unverzügliche Verwandlung in Angehörige des unteren Gesellschaftssegments verspielt werden. Umgekehrt dürfen die Fremden der Aufnahmegesellschaft nicht dauerhaft in grosser Distanz gegenüberstehen, sondern müssen deren Rahmenordnung als die ihre annehmen.

Es wäre klug, wenn wir in der Flüchtlingsdebatte mehr auf die Effekte von Massnahmen achten würden, um die positiven Seiten zu vermehren und die negativen zu begrenzen, als diffusen Ängsten zu folgen, die das Problem nur vergrössern. Vorerst jedenfalls müssen unsere Gesellschaften sich auf eine anhaltende Migration einstellen und Strategien entwickeln, um daraus das Beste zu machen. Ein Blick in die Geschichte kann dabei helfen.

Herfried Münkler ist Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Ende September erscheint (bei Rowohlt Berlin) sein Buch «Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert».


Nota. - Das kommt ja auch nicht alle Tage vor, dass ich einem von anderswo her übernommenen Beitrag gar nichts hinzuzufügen habe, jedenfalls nichts kritisch unabdingbares. Das ist das beste, was man über einen Text sagen kann: Das lässt sich weiter ausführen.
JE