Donnerstag, 28. August 2014

Die Krankheiten der großen Männer.

Bei der Schlacht von Waterloo stand Napoleon unter dem Einfluss von Schmerzmitteln - war dies ein Grund für die Niederlage der Franzosen?
aus nzz.ch, 27.8.2014, 05:30 Uhr

Wie die Gebrechen von Staatsoberhäuptern die Geschicke der Menschheit bestimmen
Krankheiten haben verschiedentlich den Lauf der Geschichte beeinflusst, vor allem in Gestalt der grossen Seuchen. Doch auch Einzelschicksale können historische Wegscheiden sein – wenn sich die politische Macht in einer Person konzentriert.

von Ronald D. Gerste

Ein Fallbericht: Die Patientin ist 42 Jahre alt, von normaler Körpergrösse und Gewicht; seit langem hegt sie einen bis anhin unerfüllten Kinderwunsch. Jetzt jedoch sind Zeichen einer Schwangerschaft aufgetreten: das Ausbleiben der Regel, ein kontinuierliches Anschwellen des Unterleibes. Doch diese Schwellung geht mit Schmerzen einher, der Allgemeinzustand der Patientin verschlechtert sich, sie wird zunehmend schwächer. Dann, mit dem nasskalten Herbstwetter, zieht eine Grippeepidemie über das Land. Ihre Abwehrkraft ist gemindert, die Frau stirbt. Die vermeintliche Schwangerschaft waren vermutlich grosse Zysten der Eierstöcke oder ein bösartiger Tumor des Uterus.

Königliche Patientin

Bei diesem tragischen Schicksal hält das Räderwerk der Geschichte für einen Moment inne, bevor es 
sich, mit anderer Taktung und neuer Richtung, weiterbewegt. Die Patientin war Mary Tudor (Maria I. von England), deren Zeit auf dem englischen Thron durch das nicht zweifelsfrei identifizierte Leiden auf fünf Jahre begrenzt blieb. Als sie im November 1558 der Kombination aus Unterleibsgeschwür und Infektion erlag, scheiterte ihr kurzes, aber brutales politisches Lebenswerk: Sie hatte versucht, das Ruder des Staatsschiffes herumzuwerfen, England wieder zu einer Bastion des Katholizismus zu machen, und liess dafür mehrere hundert Personen, die sie und ihre frommen Berater als Ketzer erachteten, bei lebendigem Leibe verbrennen.


Der vorzeitige Tod von Mary Tudor, der «Bloody Mary», hat auch dem Wüten der Inquisitoren ein Ende bereitet.
Der vorzeitige Tod von Mary Tudor, der «Bloody Mary», hat auch dem Wüten der Inquisitoren ein Ende bereitet.
Der frühe Tod der Königin, die als «Bloody Mary» in die Annalen einging, änderte alles: Ihre jüngere Halbschwester Elizabeth kam auf den Thron und setzte den von ihrem gemeinsamen Vater Heinrich VIII. verordneten Protestantismus in Gestalt der Church of England durch. Elizabeth regierte 45 Jahre über ein zunehmend blühendes und expandierendes Land, das Fuss in der Neuen Welt fassen sollte. Und: Unter Elizabeth besiegte England 1588 die spanische Armada und zeigte dem Weltreich von der Iberischen Halbinsel Grenzen auf – ein Weltreich, an dessen Spitze Marys Gatte Philipp II. stand. Ohne Marys frühen Tod hätte die konfessionelle Landkarte Europas anders ausgesehen – mit unabsehbaren Folgen. Und ein William Shakespeare hätte unter dem Damoklesschwert der Inquisition die meisten seiner Werke kaum geschrieben.

Effekte auf Mikroebene

Es bestehen wenig Zweifel, dass Krankheiten die Historie beeinflussen. So ist etwa der als Schwarzer Tod bezeichnete Zug der Beulenpest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, dem rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel, in seinen sozialen und ökonomischen Auswirkungen eingehend untersucht worden. Doch neben diesem Makroeffekt gibt es einen Impact von Leid, Krankheit und unzeitigem Tod auf einer Mikroebene: dem eines signifikanten politisch Handelnden. Universitäre Historiker vor allem in Europa sehen Geschichte primär als eine Abfolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tendenzen. Dass sogenannte «grosse» Persönlichkeiten den Gang der Ereignisse entscheidend bestimmen, ist eine etwas verpönte Vorstellung. Indes können sich die meisten Menschen nur schwer vorstellen, welche Entwicklung Europa im 20. Jahrhundert ohne Hitler genommen hätte.

Oder auch, ob es zu einem so friedlichen Ende des Kalten Krieges gekommen wäre, wenn nicht Michail Gorbatschew 1985 in der Sowjetunion den Parteivorsitz angetreten hätte. Die Pathobiografie, das Zusammentreffen von Medizin und biografischer Geschichtsschreibung, verleitet fast stets zu der spekulativen Frage: Was wäre gewesen, wenn . . . – eine Frage, die vor den Augen vieler Historiker keine Gnade findet.

Viele Beispiele


Hämorrhoiden und ein Burn-Out-Syndrom machten Napoleon zu schaffen.
Hämorrhoiden und ein Burn-Out-Syndrom machten Napoleon zu schaffen.
Dabei gibt es durchaus anerkannte pathobiografische Studien – zu mentalen Krankheiten, zu Subjekten wie Hitler, Caligula und Nero sowie (in seinem Wahn wesentlich harmloser als die Vorgenannten) zu Georg III. von England. Vergleichbare Untersuchungen, die auf physische Gebrechen abzielen, haben hingegen oft den Beigeschmack des Anekdotischen. Für die Zeitgenossen waren körperliche Dysfunktionen ihrer Herrscher indes von einschneidender Bedeutung. Beispiele hierfür gibt es viele. So war etwa Napoleon bei der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 nicht er selbst: Der Mann, dem kaum jemand ein militärisches Genie abspricht, litt an Hämorrhoiden und wohl auch an einem Burnout-Syndrom. Sein Agieren als Oberbefehlshaber an diesem schicksalhaften Tag wird weithin als lethargisch beschrieben – Napoleon stand vermutlich unter dem Einfluss schmerzlindernder Opiate.

In seinen Auswirkungen gar nicht unterschätzt werden kann zudem das plötzliche Leiden (die Malaria, aber auch ein Giftanschlag werden vermutet) Alexander des Grossen, der im Alter von nur 33 Jahren starb, nachdem er ein Weltreich erobert hatte, das dann rasch wieder zerfiel. Vereinzelt hatten auch leichte, fast banale Störungen eine verheerende Wirkung: etwa die Kurzsichtigkeit von Schwedenkönig Gustav II. Adolf, der die Kaiserlichen im Dreissigjährigen Krieg bis in den Süden Deutschlands zurückdrängte. Dieser Sehfehler und aufkommender Morgennebel liessen den begabten Heerführer in der Schlacht bei Lützen im November 1632 die Orientierung verlieren, unter die Feinde geraten und einen frühen Tod finden. Hätte die Katastrophe Mitteleuropas sonst nur halb so lange gedauert und zu einer stabileren Friedenslösung geführt?

Die Wertschätzung einer pathobiografischen (Mit-)Beurteilung mancher historischer Wendemarken darf freilich nicht dazu führen, den Faktor Krankheit zu überschätzen. Die Katastrophe, die vor hundert Jahren ihren Lauf nahm, wäre – aufgrund der unerbittlichen Bündnissysteme, des Misstrauens, des Wettrüstens – wohl auch eingetreten, wenn es, um mit Barbara Tuchmann zu sprechen, im Sommer 1914 nicht eine solche «Torheit der Regierenden» im Übermass gegeben hätte.

Psychisch labile Gestalt


Die Verkrüppelung des linken Arms hatte Einfluss auf die Psyche von Kaiser Wilhelm II.
Die Verkrüppelung des linken Arms hatte Einfluss auf die Psyche von Kaiser Wilhelm II.
Allerdings: Dass zwei der wichtigsten Akteure eigentlich nicht amtsfähig waren, hat sicherlich nicht zu einer Eindämmung der Eskalation beigetragen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. war eine psychisch labile, unsichere Persönlichkeit, was zumindest in Teilen auf seine bei der Geburt erlittene Behinderung – eine Verkrüppelung des linken Arms – zurückgeführt wird. Der zweite Akteur, der einflussreiche englische Aussenminister Sir Edward Grey, litt unter seiner beginnenden Blindheit. Aufgrund dieses Leidens hinterliess er die bekannteste Metapher über den heraufziehenden Ersten Weltkrieg: «In Europa gehen die Lichter aus, und wir werden sie zu Lebzeiten nicht mehr angehen sehen!» Krankheiten, ob akut oder chronisch, haben freilich nicht nur die Staatsgeschicke einstiger absolutistischer Regime beeinflusst, sondern auch jene von Demokratien der Zeitgeschichte.

Zeitalter des Lügens


Trotz eines Prostatakarzinoms amtierte Mitterrand von 1981 bis 1995.
Trotz eines Prostatakarzinoms amtierte Mitterrand von 1981 bis 1995
John F. Kennedy litt an Morbus Addison.Vertuschung war und ist dabei meist oberstes Gebot. Unübertroffen dürfte in dieser Hinsicht Frankreichs Präsident François Mitterrand gewesen sein. Dem 1981 ins Amt gekommenen Sozialisten wurde nach nur einem halben Jahr im Elysée-Palast von seinen Ärzten mitgeteilt, dass er an einem fortgeschrittenen Prostatakarzinom leide. Sein Leibarzt Claude Gubler bemerkte rückblickend, es habe das Zeitalter des generalisierten Lügens begonnen. Dass Mitterrand dennoch zwei volle Amtszeiten, von 1981 bis 1995, amtierte, legt Zeugnis ab von der Effektivität moderner Krebstherapien. Die Franzosen erfuhren erst 1992 von der schweren Krankheit ihres Präsidenten – die Mitterrand nicht an seinem politischen Lebenswerk hinderte, die D-Mark (Mitterrand: «Die Atombombe der Deutschen») zugunsten des Euro abgeschafft zu sehen.

In den USA wurde die Nebennieren-Erkrankung (Morbus Addison) von Präsident John F. Kennedy ebenso negiert wie Franklin D. Roosevelts Behinderung infolge einer Kinderlähmung – die dessen Amtsführung allerdings nicht im Wege stand. Indes hätte sein Herzleiden 1944 eine Wiederwahl ausschliessen müssen.

John F. Kennedy litt an Morbus Addison.

Roosevelts Herzschwäche und seine horrend hohen Blutdruckwerte wurden zu Staatsgeheimnissen. Inwieweit der fahl und elend aussehende Präsident dem Sowjetdiktator Josef Stalin bei der Konferenz in Jalta im Januar 1945 unterlegen war, ist vielfach debattiert worden. Der für die Öffentlichkeit unerwartete Tod Roosevelts am 12. April 1945 war indes ein Glücksfall für das gerade besiegte Deutschland und für die mit ihm wirtschaftlich verflochtenen Länder Europas: Der von Roosevelts Finanzminister Henry Morgenthau gehegte Plan, Deutschland in einen Agrarstaat zu verwandeln und eine Reindustrialisierung zu verbieten, wurde Makulatur: Roosevelts Nachfolger Harry Truman entfernte Morgenthau aus seinem Kabinett.


Wegen einer Kinderlähmung war Franklin D. Roosevelt im Alltag behindert.
Schutzmechanismen

Anders als viele Autokratien sind demokratische Systeme in der Lage, Schutzmechanismen zu installieren, so dass die Pathobiografie einzelner Personen möglichst wenig Einfluss auf die Staatsgeschicke nimmt: Das gelingt ihnen, indem sie die Verantwortung auf viele Schultern verteilen. Kaum denkbar erscheint daher beispielsweise, dass in der Schweiz ein plötzlicher Krankheitsfall eines Nationalrates oder eines Ministers krisenhafte Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

Um die körperliche und mentale Gesundheit einer autokratischen Person muss man sich andererseits auch im 21. Jahrhundert noch sorgen – wenn es etwa darum geht, wie amtsfähig eine Person ist, die über die Nuklearstreitkräfte ihres Landes gebietet. So wurde erst Jahre nach der Öffnung von Parteichef Yuri Andropow im August 1983.sowjetischen Archiven bekannt, wie nahe die Welt im November 1983 an einer Eskalation stand. So glaubte der schwer an Diabetes erkrankte und in seinem Moskauer Klinikbett gelegentlich ins Halbkoma driftende Parteichef Juri Andropow, die Nato-Simulation «Able Archer» sei Teil eines Angriffs auf den Warschauer Pakt. Die sowjetischen Atomstreitkräfte wurden in Bereitschaft versetzt.

Parteichef Yuri Andropow im August 1983

Andropow entstammte dem Geheimdienst KGB – so wie jener Mann, der heute über das gleiche nukleare Arsenal wacht, im Unterschied zu Andropow aber vor Gesundheit zu strotzen scheint. Das jedenfalls sollen uns die propagandistischen Bilder eines vitalen, kalte Ströme durchschwimmenden, hoch zu Ross reitenden und den Wildgänsen nachsegelnden Präsidenten der Russischen Föderation vermitteln.

 
Nota.

Nicht große Männer machen Geschichte, sondern die Massen. Ja ja, aber die Massen machen Geschichte meist nur, wenn sie energische Anführer haben, die man aus ebendiesem Grunde als große Männer und manchmal große Frauen ansieht.

Und die Frage "Was wäre gewesen, wenn..." ist nach Max Weber die einzige, die erlaubt, in der Geschichte so etwas wie einen Wirkzusammenhang auszumachen; wenn man sich nämlich einen ausgewählten 'Faktor' wegdenkt: Was wäre gewesen, wenn XY zu diesem Zeitpunkt nicht an diesem Ort gewesen wäre? Hätte sich nicht viel geändert? Dann gehört XY nicht zu den großen Bewegern. Wäre alles anders gekommen - dann gehörte XY zu den 'Faktoren', die "Geschichte machen". Wobei es sich offenbar nicht um eine analytische, sondern um eine intuitive Einschätzung handelt, aber das ist mehr als nichts, und man kann es immerhin kritisieren. 
JE  


Montag, 25. August 2014

Gegenwartsschock.

Nicht jedes computergenerierte Muster ist bedeutungsvoll – Ausschnitt vom Rand der visualisierten Mandelbrot-Menge.
aus nzz.ch, 26.8.2014, 08:10 Uhr                                                         aus dem Mandelbrot-Baum

«Present Shock» – Douglas Rushkoffs Zeitdiagnose
Gefangen in einer Scheingegenwart


Philosophie, so lässt man sich von Hegel noch immer gerne sagen, ist «ihre Zeit in Gedanken erfasst». Das Umgekehrte gilt freilich nicht ohne weiteres; nicht jede Zeitdiagnose ist schon Philosophie (oder Soziologie, die es zu Hegels Zeiten noch nicht gab). Soll heissen: Nicht jeder Versuch, die Gegenwart zu verstehen, hat die nötige Durchdringungskraft, um einen haltbaren Begriff von dem zu gewinnen, «was ist». Das spricht nicht dagegen, solche Versuche zu unternehmen. Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Weltdeutung will stets aufs Neue befriedigt sein; und es bringt, so scheint es, in sich steigernder Taktzahl Diagnosen hervor, neue Soundso-Generationen, neue Soundso-Gesellschaften. Das diagnostische Bedürfnis, wie man es nennen könnte, darf insofern selbst als Signatur unserer Zeit gelten; und selbstredend ist auch der Ausdruck «Diagnosegesellschaft» bereits in Umlauf (wiewohl noch nicht so häufig zu vernehmen wie etwa sein altgedientes Pendant «Therapiegesellschaft»).

«Digiphrenie» und «Fraktalnoia»

Im Wortfeld der allgemeinen Sozialpathologie ist kürzlich eine weitere Diagnose gestellt worden. Sie stammt von Douglas Rushkoff, einem New Yorker Medientheoretiker, Netzbeobachter und Kolumnisten, der sich einst im Umkreis des Cyberpunk bewegte und dem ein Miturheberrecht an Prägungen wie «digital natives» und «virale Medien» zugeschrieben wird. Seine Diagnose lautet: «Present Shock». Der Ausdruck ist auf Alvin Tofflers «Future Shock» von 1970 gemünzt. Der Futurologe sah damals dies kommen: «too much change in too short a period of time». Unterdessen ist die Zukunft Gegenwart geworden. Anders als im medizinisch definierten Schockzustand, in dem der Organismus mit Sauerstoff unterversorgt ist, wirkt sich im Gegenwartsschock nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel lebensbedrohlich aus. Es ist jenes Zuviel, über das seit längerem schon alle Genossen des «digitalen Zeitalters» zu klagen Anlass und pausenlos Gelegenheit haben: zu viele Daten und Informationen, zu viel Ablenkung, zu viel Tempo. Alles scheint «jetzt» zu geschehen, in «Echtzeit»; und das, was überhaupt geschieht, ist nurmehr eine unendliche Verkettung von solchen nervösen Jetztpunkten, es ergibt mithin keine Geschichte, keinen Sinn mehr. Wer den Schock erleidet, wessen Filter versagen, der ist in einer elektronischen Scheingegenwart gefangen, die eine Wahrnehmung des Hier und Jetzt gerade verunmöglicht – Diagnose: «Digiphrenie».

Die durch digitale Technologien perforierte Zeit nötigt denen, die in ihr «zeitgemäss» zu leben versuchen, permanent Entscheidungen auf: Öffnen oder nicht? Löschen oder lesen? Antworten oder abwarten? Annehmen oder abweisen? Kurzatmig springt der telegrafisch, telefonisch und telepathisch elektrisierte Mensch, der nicht dort ist, wo sein Körper sich befindet, von Wahlmöglichkeit zu Wahlmöglichkeit – und überspringt dabei seine eigene Gegenwart. «Es ist», schreibt Rushkoff, «wie ein Tanz mit einem Partner, der den Rhythmus vorgibt, uns aber weder sieht noch spürt.»

Zum ausufernd weiten Krankheitsbild des «Present Shock» gehört nach des Autors Diagnose noch mancherlei Symptom. Der Rede wert wäre gewiss die «Apokalypsie», die Sehnsucht nach einer Zäsur, einer Erlösung aus der aufreibenden Existenz in Zeiten der Teletechnologie – eine Reaktion auf den Gegenwartsschock, die Rushkoff aber als weitere Facette des Syndroms schildert. Er attestiert sie auch den Trans- und Posthumanisten, die (mit Ray Kurzweil) dem Augenblick entgegenfiebern, da sie ihre beschwerliche menschliche Hülle abstreifen und nurmehr elektronische Impulse sein werden in einem weltumspannenden technologischen Nervensystem. – Solche Apokalyptiker haben immerhin eine Geschichte zu erzählen.

Hervorgehoben sei aus der reichhaltigen Symptompalette insbesondere, was Rushkoff «Fraktalnoia» nennt – in Anlehnung an die computergenerierten geometrischen Muster, die der Mathematiker Benoît Mandelbrot auf den Namen «Fraktale» getauft hat und die nach des Medientheoretikers Einschätzung in der frühen Cyberkultur eine ähnliche Rolle spielten wie die Paisleymuster in der Hippiebewegung der sechziger Jahre. Zur «Fraktalnoia» komme es, wenn Mustererkennung zur Manie werde; und nach Mustern suche, wer geneigt sei, die Welt aus den Datenströmen der unmittelbaren Gegenwart zu erklären, wer keine Weltgeschichte mehr vor Augen habe, sondern eine zu zeichnende Weltkarte, auf der alles mit allem «verlinkt» werden könne.

Da kleine, herangezoomte Ausschnitte eines Fraktals – Stichwort: «Selbstähnlichkeit» – genauso aussehen wie grössere oder das Gesamtgebilde, ist nicht erkennbar, welcher Dimension das jeweils Sichtbare entstammt. Dieser Umstand macht Fraktale für Rushkoff zu einem Sinnbild übertriebener Mustersuche im Zustand des Gegenwartsschocks, die dazu verführe, im Nebel zu stochern: Von grassierenden Verschwörungstheorien bis zu kurzfristigen Kursprognosen an der Wall Street reicht das bunte Bukett an Beispielen.

Die Katastrophe

Alles mit allem – und beinahe gleichzeitig – in Verbindung zu bringen, könnte indes auch als Charakteristikum dieser Art der Zeitdiagnostik gelten. Es ist gewissermassen ein Berufsrisiko des Diagnostikers, mit seinen Analysen selbst dem Symptom verhaftet zu bleiben. Ein weiteres Risiko könnte sein, nach der Therapie gefragt zu werden, die die diagnostizierte Krankheit zu kurieren vermöchte. Auch in diesem Punkt erweist sich Rushkoff als Sohn seiner – unserer – Zeit. Auf die Bremse treten statt aufs Gaspedal, lautet seine unoriginelle, aber gewiss nicht grundfalsche Antwort.

Dass ihm dabei nicht der Griff nach der Notbremse vorschwebt, den Walter Benjamin, revolutionär und apokalyptisch gestimmt, einst empfahl, dürfte evident sein. Douglas Rushkoffs Devise steht am Schluss seines locker gestrickten Buches, das allenthalben für eine neue «Balance» wirbt: «innehalten – und wieder loslegen». Der Autor scheint zu glauben, es komme nur darauf an, die richtigen Programme zu schreiben, um die Maschinen für uns und nach menschlichem Rhythmus arbeiten zu lassen. – Gewiss, so könnte es weitergehen. Jedoch: «Dass es ‹so weiter› geht», hielt Benjamin dem Fortschrittsoptimismus entgegen, «ist die Katastrophe.»

Douglas Rushkoff: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert. Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann. Orange Press, Freiburg i. Br. 2014. 286 S., Fr. 37.90.

Dostojewski als Vordenker der großrussischen Reaktion.

aus nzz.ch, 25.8.2014, 05:30 Uhr                                           Ewiges Russland  – der Nationalkünstler Ilja Glasunow bringt die russi- schen geistigen Hierarchien in Öl auf den Punkt. Unter dem gekreuzigten Christus steht mit Bart Fjodor Dostojewski; darunter rechts der Zarewitsch.

Dostojewski als Stichwortgeber der russischen Rechten
Avantgardist der Reaktion


Nachdem Dostojewski in der ehemaligen Sowjetunion aus ideologischen Gründen während Jahrzehnten ein unliebsamer, phasenweise offiziell verfemter Klassiker gewesen ist, gilt er neuerdings bei der meinungsbil- denden politischen und intellektuellen Elite Russlands als prophetischer Künder einer Zukunftsvision, die das Land – sein «Volk» wie sein »Geist»– schon immer in sich getragen habe und die nun endlich nicht nur ausgesprochen, sondern in die Tat umgesetzt werden müsse.

Wenn kommunistische Funktionäre dem als «reaktionär» rubrizierten Autor einst Nationalchauvinismus, Rassismus, Kriegshetzerei, religiösen Obskurantismus und pauschale Vernunftkritik vorgeworfen haben, so werden diese Kritikpunkte heute mehrheitlich ins Positive gewendet, neu ausformuliert und durchweg als produktiv veranschlagt: Man vereinnahmt Dostojewskis Werk – die grossen «Romantragödien» ebenso wie seine publizistischen Schriften – als Kernbestand der aktuell geltenden grossrussischen Ideologie.

Eine an Idolatrie grenzende Verehrung

Diese imperial geprägte Ideologie wird gestützt von der bestehenden Machtvertikale und soll horizontal auf eine «eurasische» Achse gebracht werden, die als Träger für eine kontinentale Völkergemeinschaft gedacht ist. In einer solchen Gemeinschaft sollten sich, dem eurasischen Projekt entsprechend, nicht nur die früheren Sowjetrepubliken, sondern auch die einst kommunistischen «Bruderstaaten» im östlichen Europa zusammenfinden, um unter russischer Führung eine neue Union unter alten Auspizien zu begründen: von Ostdeutschland und dem Balkan über den Kaukasus bis zum Ural, vom Ural über Sibirien bis zur chinesischen Grenze und zum Pazifik. Die russische Orthodoxie wird die geistigen und geistlichen Interessen des multinationalen eurasischen Grossreichs vertreten und den verderblichen Einfluss des westlichen «Freidenkertums» von ihm fernhalten. Die derzeitige Innen- und Aussenpolitik der Russländischen Föderation wie auch die offizielle Kultur- und Kirchenpolitik machen deutlich, dass der «eurasische Weg» konsequent vorangetrieben wird.

Wenn Dostojewski als Apologet des Zarentums und Propagandist der autokratischen Staatsdoktrin in den 1870er Jahren die orthodoxen Balkanstaaten als russisches Interessengebiet herausstellte und deren militärischen Schutz forderte; wenn er zur «Heimholung» Konstantinopels aufrief und gleichzeitig Russlands «Rettung» und all seine «Hoffnungen» auf Asien setzte – dann macht ihn dies zwar nicht zum Propheten, aber doch zu einem autoritativen Stichwortgeber heutiger russischer Expansionspolitik. 

«Dostojewski gehört heute wie zu seinen Lebzeiten zur Avantgarde der Reaktion.» Das paradoxale Verdikt aus der späten Stalinzeit gewinnt in jüngster Zeit überraschende, wenn nicht beängstigende Aktualität, mit dem gewichtigen Unterschied freilich, dass die «Reaktion» in der russischen Gegenwart weit mehr als bloss «Avantgarde» ist – sie bildet nämlich mittlerweile den Hauptharst der politischen, militärischen und intellektuellen Elite, die zu einem fatalen Amalgam von neostalinistischen und neofaschistischen Elementen geworden ist.

Dostojewskis herausragende Position im Gesamtkontext des grossrussischen Geschichtsdenkens wie auch in Bezug auf das gegenwärtige Selbstverständnis der russischen Bevölkerungsmehrheit hat am klarsten der hochdekorierte Nationalkünstler Ilja Glasunow auf den Punkt gebracht, als er zur Zeit der Wende unter dem Titel «Ewiges Russland» ein Monumentalgemälde (drei mal sechs Meter) schuf, auf dem er Dutzende von historischen Persönlichkeiten – Herrscher, Heilige, Kleriker, Philosophen, Kunstschaffende – in Stellung brachte, allesamt überragt vom gekreuzigten Christus und geborgen in einem Ensemble altrussischer Sakralbauten. In der Mitte, am Fuss des Kreuzes, placiert Glasunow in die vorderste Reihe, umgeben von lauter Heiligen Vätern, den Schriftsteller Dostojewski, der vor sich hin sinniert und eine brennende Kerze in der Hand hält. Die Tatsache, dass alle neuzeitlichen Zaren und selbst Puschkin, der gemeinhin als der grösste unter den russischen Klassikern gilt, hinter Dostojewski zurücktreten müssen, unterstreicht dessen singuläre Sonderstellung – es ist eine an Idolatrie grenzende Verehrung, die Glasunow explizit mit den Ideologen der eurasischen Bewegung teilt.

Zu Dostojewskis obsoleten Gedankenspielen gehören nicht zuletzt seine Reflexionen zur Judenfrage. Diese hat er mit besonderer Insistenz und Schärfe in einigen seiner späten, unverhohlen polemischen Aufsätze der 1870er Jahre, aber auch in seinem Roman «Der Jüngling» von 1875 dargelegt. Der grosse Humanist, in dem schon Nietzsche einen der grössten Psychologen überhaupt zu erkennen glaubte, bediente sich damals sämtlicher Register antisemitischer Rhetorik und scheute kein Klischee, um die moralische und rassische Minderwertigkeit des Judentums anzuprangern – «Absonderung und Intoleranz gegenüber allem Nichtjüdischen», «Errichtung eines Staats im Staat», «Beherrschung des Kredits und damit der ganzen internationalen Politik», «Handel mit fremder Arbeit» und «das Bestreben, der Welt das eigene (jüdische) Antlitz und Wesen mitzuteilen».

Demgegenüber möchte Dostojewski das Russentum – leidgeprüft, glaubensstark, demutsvoll, uneigennützig, brüderlich – als weltumgreifendes «Allmenschentum» etabliert sehen, vereint in «Allresonanz» und «Allversöhnlichkeit»; doch ebendiese globale «All-Einheit» schränkt er gleichzeitig wieder ein, führt sie gar ad absurdum, indem er dem «Weltjudentum» die Zugehörigkeit zum «Allmenschentum» versagt.

Der angeblich wurzellose Jude kann weder den patriotischen Ansprüchen noch dem «Allmenschentum» entsprechen, wie Dostojewski es als globale Vision eines russisch fundierten Christentums in Aussicht gestellt hat, das berufen sei, die westeuropäische Idee einer aufgeklärten Zivilisation abzulösen, die – angekränkelt von liberalem Gedankengut und ausgepowert durch kapitalistische Ausbeutung – «einen Teil der Menschen zu Tieren werden lässt, damit der andere im Wohlstand lebe». Liberalismus und Kapitalismus glaubt Dostojewski als Grundlage eines jüdischen Imperialismus zu erkennen, der immer ausgeprägter «zersetzende» Züge annehme und für den die Knechtung der Welt zum Programm geworden sei.

Konkurrenz der Heilserwartung

Mit solchen und ähnlichen Aussagen kann sich Dostojewski auch im heutigen Russland als «Antisemit» beliebt machen, und tatsächlich bezieht sich die neue Rechte oft und gern auf ihn. Eins von vielen Beispielen dafür bietet, nebst zahllosen einschlägigen Websites und Diskussionsforen, das «Enzyklopädische Wörterbuch der russischen Zivilisation», das der Orthodoxe Verlag in Moskau herausgebracht hat. Der voluminöse Band – Obertitel: «Das Heilige Russland» – kolportiert unter dem Deckmantel enzyklopädischer Gelehrsamkeit reihenweise judenfeindliche Statements und antisemitische Klischees, die das Judentum pauschal als Russlands «teuflischen» Erzfeind denunzieren. Ein mehrspaltiger Artikel über Dostojewski besteht denn auch zur Hälfte aus tendenziös ausgewählten und entsprechend kommentierten Zitaten, die den Schriftsteller als entschiedenen Antisemiten und gerade damit als patriotischen Anwalt des Grossrussentums ausweisen sollen.

All diesen unzweideutigen Aussagen zum Trotz wird man sich hüten müssen, Dostojewski als Wortführer eines undifferenzierten Judenhasses in Anspruch zu nehmen. Denn genau so polemisch wie gegen «die Juden» hat sich der grosse Humanist auch gegen «die Katholiken», «die Sozialisten», «die Westler», «die Deutschen», «die Polen» oder die durchweg dummen und hässlichen «Schweizer» geäussert, besonders scharf aber – gegen «die Russen», seine eigenen Landsleute, die er keineswegs nur als auserwähltes «Gottesträgervolk» hochleben liess, sondern auch, fast häufiger noch, als eine dumpfe Herde zutiefst verkommener, brutaler, eigennütziger, rächerischer, anarchischer Unmenschen, denen nichts Tierisches und nichts Teuflisches fremd sei.

Die Vergleichsbeispiele machen seine antisemitischen Ausfälle nicht besser, lassen aber erkennen, dass er nicht nur einfach ein Judenverächter war, dass er vielmehr – generell – zu Misanthropie und Intoleranz neigte, auch wenn er sich noch so wortreich für einen christlich geprägten Humanismus engagierte. Und doch gibt es in seinem gestörten Verhältnis zum Judentum einen wunden Punkt, der seine Irritation dann doch als etwas Besonderes ausweist: Die jüdische Sendungsidee und Heilandserwartung, aus unvordenklichen Zeiten tradiert und lebendig erhalten, bildet für Dostojewski und seinen grossrussischen Messianismus eine gewaltige, vielleicht übermächtige Herausforderung, die er nur als feindselige Konkurrenz und als ständige Bedrohung zu begreifen vermag: Der christliche und der jüdische Anspruch auf Auserwähltheit und damit auch zwei unvereinbare Messianismen stehen einander hier entgegen.

Womöglich sind also Dostojewskis antisemitische Invektiven Ausdruck einer tiefer liegenden, nicht eingestehbaren Bewunderung für eine religiöse Gemeinschaft, die trotz weltweiter Zerstreuung ihre eigene Geistes- und Glaubenswelt zu erhalten vermochte, derweil das kontinental aufgestellte Russentum im selbstmörderischen Konflikt mit seinen eigenen «Dämonen» befangen bleibt, statt endlich – wie Dostojewski es immer wieder gefordert hat – seine «allmenschlichen» Ambitionen durchzusetzen und sie christlich auszuleben.


Nota.

Meine Leser werden verstehen, dass hier die Rede von Dostojewski als politischem Ideologen ist und nicht von Dostojewski als Dichter, der nicht bloß der russsichen, sondern der Weltliteratur gehört.
JE

Mittwoch, 20. August 2014

Vor zweitausend Jahren starb Augustus.

aus nzz.ch, 16. August 2014, 05:30                                                                   Augustus-Statue aus der Villa Livia bei Prima Porta
 
Ordnungspolitiker mit historischer Mission


Eine Art Monarchie errichten und sie als Republik ausgeben – nicht nur das ist Gaius Octavius alias Augustus gelungen. Vor zweitausend Jahren starb der «Erhabene», den die Geschichtsbücher als ersten römischen Kaiser verzeichnen.

Vor zweitausend Jahren, am 19. August 14 n. Chr., starb Augustus in Nola bei Neapel. «Wenn ich meine Rolle gut gespielt habe, so klatscht Beifall», soll er auf dem Sterbebett die Trauergemeinde angehalten haben. – Doch wer war der erste Kaiser Roms? Ein globaler Friedensfürst? Ein erbarmungsloser Schlächter? Ein genialer Staatsmann? Ein Zyniker der Macht? Schon im berühmten Totengericht des Tacitus stehen sich Verteidiger und Ankläger gegenüber. Jede Zeit hat ihren Augustus geschaffen. Für die christlichen Theologen des Mittelalters war er Teil des göttlichen Heilsplans, da unter seiner Herrschaft Christus geboren worden war. Französische Aufklärer verurteilten Augustus als Despoten, deutsche Historisten rekonstruierten eine Monokratie in republikanischer Verkleidung, und italienische Faschisten rechtfertigten mit seiner Hilfe ihre imperialen Gelüste. Während Wilhelm Weber, der nationalsozialistische Althistoriker an der Berliner Universität, in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Augustus als Begründer des Führerprinzips feierte, entlarvte Ronald Syme in Oxford, wenige Tage nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. die totalitären Züge der augusteischen Herrschaft.

Grossneffe eines Diktators

Was wissen wir sicher? Augustus wurde als Gaius Oktavius am 23. September 63 v. Chr. in Rom als Sohn einer wohlhabenden, aber nicht zur Nobilität zählenden Familie geboren. Der neunzehnjährige Grossneffe Julius Cäsars wurde von diesem adoptiert und trug fortan dessen Namen. Rücksichtslos wurde damals in der römischen Aristokratie der Kampf um die Macht im römischen Staat geführt. Nach dem Attentat auf Cäsar an den Iden des März 44 v. Chr. beteiligte sich sein Adoptivsohn an der Vernichtung der Mörder, um dann seinen zeitweiligen Verbündeten und späteren Rivalen, Marcus Antonius, der sich mit der ägyptischen Königin Kleopatra zusammengetan hatte, auszuschalten.

Bronzebüste des Octavian

Geschickt hatte er zuvor die Vergöttlichung seines Adoptivvaters durchgesetzt. Cäsar wurde zum «divus», sein Sohn zum «divi filius». 31 v. Chr. triumphierte der «Sohn des Vergöttlichten» bei Aktium vor der griechischen Westküste über seine Gegner. Antonius und Kleopatra begingen daraufhin Selbstmord. Der Sieger war der mächtigste Mann im Römischen Reich. Seinem Befehl gehorchten die Soldaten, er verfügte über zahllose Anhänger in Italien und den Provinzen, er hatte unermessliche finanzielle Mittel, und er war der einflussreichste Patron. Doch er griff weder nach der Königswürde noch nach dem Amt des Diktators, das seinem Adoptivvater zum Verhängnis geworden war.

Am 13. Januar 27 legte der junge Cäsar in einer sorgfältig inszenierten Senatssitzung seine ausserordentlichen Vollmachten nieder und gab dem Senat und Volk von Rom die Verfügungsgewalt über die «res publica» zurück. Die nun ergehenden Beschlüsse des Senates sicherten jedoch seine herausragende Stellung und begründeten den Übergang von der Republik zur Monarchie. Er behielt das Konsulat und bekam die zunächst auf zehn Jahre befristete Kontrolle über die Provinzen, in denen das Heer stand. Zum Dank wurde ihm am 16. Januar der Name «Augustus», «der Erhabene», verliehen. Er selbst nannte sich «princeps», «der erste (Bürger)»; die von ihm begründete Ordnung heisst deshalb Prinzipat.
 
Politische Fassade

Bis in das Jahr 23 v. Chr. war Augustus ununterbrochen Konsul, um die Politik in Rom zu kontrollieren. Als sich dagegen im Senat Widerstand formierte, gab er das Konsulat auf und nahm dafür die Amtsgewalt eines Volkstribunen, die «tribunicia potestas», auf Lebenszeit an. Dadurch konnte er, wie zuvor als Konsul, Senatssitzungen und Volksversammlungen einberufen. Zugleich liess er sich vom Senat die Aufsicht auch über diejenigen Provinzen übertragen, in denen kein Militär stand. Vier Jahre später wurden ihm die Vollmachten eines Konsuls verliehen.


Augustus mit Bürgerkrone (corona civica) Augustus Bevilacqua

Augustus versammelte folglich in seiner Person die Rechte und Befugnisse verschiedener republikanischer Ämter, die er als solche nicht bekleidete. Gleichzeitig wurden wie bisher Konsuln, Prätoren, Ädile, Volkstribune und andere Beamte gewählt, in den Volksversammlungen Gesetze verabschiedet und im Senat den Magistraten Ratschläge erteilt. Doch hinter der Fassade der «res publica restituta», der wiederhergestellten öffentlichen Ordnung in den äusseren Formen der republikanischen Tradition, die seine im Bürgerkrieg erworbene Machtfülle in rechtliche Formen kleidete, errichtete Augustus eine Alleinherrschaft. Damit hatte er eine richtungweisende Antwort auf die Krise der Republik gefunden. Doch in der römischen Oberschicht regte sich Widerstand. Augustus unterlief ihn mit diplomatischem Geschick oder brach ihn mit grosser Härte. Als er 14 n. Chr. starb, erwies sich die von ihm geschaffene Ordnung als zukunftsfähig.

Jedem «princeps» wurden in der Folge die Vollmachten, die ihm die faktische Alleinherrschaft erlaubten, in einem formalisierten Akt vom Senat übertragen. Theodor Mommsen sprach deshalb von einer «Dyarchie», einer Zweierherrschaft von Kaiser und Senat, ohne jedoch grundsätzlich in Abrede zu stellen, dass der Prinzipat keineswegs als eine allein verfassungsrechtlich zu fassende Institution zu verstehen sei, sondern die soziale und politische Qualifikation der Herrschaftsstellung des römischen Kaisers berücksichtigt werden müsse. Der Princeps usurpierte als mächtigster Patron die Spitze der hierarchisierten Gefolgschaftsbeziehungen. Faktisch stützte der römische Kaiser seine persönliche Herrschaft auf sein militärisches Oberkommando; der augusteische Prinzipat war daher eine Militärmonarchie, in der der Herrscher aufgrund seiner Machtfülle zwar nicht «legibus solutus» – von den Gesetzen entbunden – agierte, aber Recht selbst setzte.

Nicht nur Leistungen und Erfolge in der Innen- und Aussenpolitik kennzeichneten die Herrschaft des Augustus, sondern auch eine einzigartige Blüte von Literatur und Kunst. Innerhalb von zwanzig Jahren legten Vergil, Horaz, Tibull, Properz und Ovid ihre Meisterwerke vor. Die Auseinandersetzung mit den griechischen und hellenistischen Vorbildern wurde selbstbewusst geführt: Vergil trat mit Homer in Wettstreit, Horaz mit Alkaios, und Properz mit Kallimachos. Grossen Einfluss auf die Poeten hatte Maecenas, der Freund und Vertraute des Augustus, der die vielversprechenden jungen Talente auswählte und sie grosszügig unterstützte. Der Kreis des Maecenas gründete sich auf enge persönliche Verbindungen.

Augustus als Pontifex maximus

Die literarische Avantgarde bearbeitete auch politische Themen. Vergil schuf in seiner «Äneis» das römische Nationalepos, das die Vergangenheit Roms mit der Geschichte Trojas verband und den Anspruch auf römische Weltherrschaft formulierte; von den Irrfahrten und Abenteuern des Äneas zog Vergil eine Linie in die Gegenwart und feierte im sechsten Buch Augustus als «Spross der Götter». Horaz schrieb nicht nur seine berühmten «Römeroden», sondern auch das «carmen saeculare», jenes Lied, das bei den Säkularspielen des Jahres 17 v. Chr. gesungen wurde, als Augustus mit grossem Aufwand ein neues Säkulum, ein neues Zeitalter, beginnen liess. Diese Dichtung spiegelte und stützte das neue System, aber sie war keine Auftragsarbeit.
 
Rom

Augustus veränderte das Aussehen der Stadt Rom von Grund auf. Die Fürsorge, aber auch der Machtanspruch des Kaisers wurde überall sichtbar. Er reklamierte für sich, folgt man seinem Biografen Sueton, «eine Stadt aus Ziegeln übernommen und eine Stadt aus Marmor hinterlassen» zu haben. In der Tat gestaltete er fast alle öffentlichen Räume und Bauten neu. Auf dem Forum Romanum entstanden der Tempel des vergöttlichten Cäsar und ein neues Senatsgebäude, die «Curia Iulia». Zum repräsentativen Zentrum der Herrschaft wurde nun das 2 v. Chr. eingeweihte Augustus-Forum mit dem Tempel des Mars Ultor, des rächenden Kriegsgottes. Hier entschied der Senat über Krieg und Frieden, von hier zogen die Statthalter in ihre Provinzen, und hier wurden auswärtige Herrscher begrüsst. Auf dem Marsfeld baute Augustus ein riesiges Mausoleum als Denkmal seiner Herrschaft, das in seinen Dimensionen alle Grabmäler römischer Adliger übertraf.

Auch die Umgebung wurde nach einem ausgeklügelten System neu gestaltet. Der Senat liess zu Ehren des Augustus 13 v. Chr. einen Altar des Friedens, die Ara Pacis, aufstellen, der den Begründer der Pax Augusta unsterblich machte; zudem wurde als Siegesmonument eine riesige Sonnenuhr mit einem ägyptischen Obelisken als Schattenzeiger errichtet. Augustus verstand es vorzüglich, die «Macht der Bilder» (Paul Zanker) einzusetzen, um sich selbst darzustellen und seine Herrschaft zu sichern, indem er in seiner Person die gesamte römische Vergangenheit okkupierte.

Allein – sind hiermit die Gründe des Erfolgs der augusteischen Ordnung hinreichend erklärt? War sie ohne Alternative? Gewiss, dem Prinzipat haftete das Blut zahlloser Bürgerkriegsopfer und innenpolitischer Widersacher an, und die Herrschaft hatte den endgültigen Verlust aristokratischer «libertas» zur Folge. Aber die republikanische Senatsoligarchie hatte keine überzeugenden Strategien aus der Krise entwickeln können. Und Ciceros politische Entwürfe blieben Utopie. Augustus hingegen schuf mit seiner Prinzipatsverfassung die Voraussetzungen für ein hohes Mass an innen- und aussenpolitischer Stabilität.

Bis zur Krise des dritten nachchristlichen Jahrhunderts profitierten trotz allem Wechsel der Herrscher nicht nur die Eliten des riesigen Reiches, sondern breite Bevölkerungsschichten von wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Mobilität, von kultureller Integration und religiöser Pluralität, von rechtlicher Sekurität und administrativer Effizienz, wie schon Theodor Mommsen im fünften Band seiner «Römischen Geschichte» von 1885 herausgestellt hat: «Das eben ist das Grossartige dieser Jahrhunderte, dass das einmal angelegte Werk, die Durchführung der lateinisch-griechischen Zivilisierung in der Form der Ausbildung der städtischen Gemeindeverfassung, die allmähliche Einbeziehung der barbarischen oder doch fremdartigen Elemente in diesen Kreis, eine Arbeit, welche ihrem Wesen nach Jahrhunderte stetiger Tätigkeit und ruhiger Selbstentwicklung erforderte, diese lange Frist und diesen Frieden zu Lande und zur See gefunden hat.»

Augustus als Triumphator
Prof. Dr. Stefan Rebenich lehrt alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike an der Universität Bern. Er hat u. a. eine Biografie Theodor Mommsens sowie den Band «Die 101 wichtigsten Fragen – Antike» (beide bei C. H. Beck) publiziert.

Donnerstag, 14. August 2014

Noch ein historisches Datum!

aus tagesschau.de, Stand: 14.08.2014 09:18 Uhr

Staatsverbindlichkeiten nehmen ab  
Erstmals seit 1950 weniger Schulden 

Der deutsche Staat hat 2013 zum ersten Mal seit 1950 Schulden abgebaut. Die Verbindlichkeiten von Bund, Ländern, Kommunen und gesetzlicher Sozialversicherung einschließlich aller Extrahaushalte nahmen um 30,3 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent ab. Das teilte das Statistische Bundesamt mit und bestätigte damit vorläufige Zahlen aus dem März. Insgesamt schuldet der Staat privaten Gläubigern und Kreditinstituten aus dem In- und Ausland noch knapp 2,04 Billionen Euro.

"Der Rückgang des Schuldenstandesfand auf allen Ebenen des öffentlichen Gesamthaushaltes statt", erklärten die Statistiker. Die Verbindlichkeiten der Sozialversicherung sanken mit 5,2 Prozent auf 631 Millionen Euro am stärksten. Bei den Ländern gab es ein Minus von 3,1 Prozent auf 624,9 Milliarden Euro, beim Bund von 0,8 Prozent auf 1277,3 Milliarden Euro. Der Rückgang bei den Kommunen fiel mit 59 Millionen Euro auf 135,1 Milliarden Euro allerdings nur sehr schwach aus.

Bund und Länder profitierten von der Entwicklung der Bad Banks FMS Wertmanagement und Erste Abwicklungsanstalt, in die die toxischen Wertpapiere und Kredite der verstaatlichten Immobilienbank Hypo Real Estate und der WestLB ausgelagert wurden. Ein Teil davon konnte verkauft werden, weil risikobereite Finanzinvestoren mit dem Abflauen der Krise auf den Markt zurückgekehrt sind. Dadurch konnte die Bilanzsumme geschrumpft und der Schuldenstand reduziert werden.


Nota.

"Erstmals seit 1950": Das ist ein historisches Datum; denn älter ist die Bundesrepublik nicht. Mit andern Worten: Zum ersten Mal in der Geschichte... 

Wirtschaftswunder, Soziale Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat - die ganze Epoche des Nachkriegskapitalismus in der Welt findet in der Geschichte Westdeutschlands ihre Begriffe. Als Hintergrundrauschen ein Name: John Maynard Keynes. Aber was einmal als Lebenselixier gewirkt hat, erscheint am Ende wie ein tödliches Gift: Der Lehre nach hätten in der Zeit des Aufschwungs ja die angehäuften Schulden wieder abgebaut werden sollen. Aber das ist nie gesehen. Nicht ein Mal in fünfundsechzig Jahren.

Wenn's jetzt mal nicht zu spät ist...
JE

Freitag, 1. August 2014

Archäologische Waffenfunde in Niedersachsen.

aus scinexx                                                                                            Ulfberht-Schwert aus dem 9. Jahrhhundert

Archäologischer Waffenfund
Jungsteinzeitliches Beil und legendäres Mittelalter-Schwert in Niedersachsen entdeckt

Schwert und Beil aus alter Zeit: Gleich zwei außergewöhnliche Waffenfunde haben Schatzsucher in Niedersachsen gemacht: Ein Kupferbeil aus der Jungsteinzeit und ein "Hightech"-Schwert aus dem Mittelalter. Das Beil entpuppte sich als das älteste Metallobjekt der gesamten Region, wie Archäologen berichten. Das Schwert gehört zu den legendären Ulfberht-Schwertern, deren Eisenklingen so stabil und leicht waren wie Stahl. Beide Funde werfen ein neues Licht auf die Ur- und Frühgeschichte Mittteleuropas.

 
Ein Kupferbeil aus der Jungsteinzeit

Den ersten Fund machten einige Jugendlichen , die mit einem Metalldetektor in Steinbergen bei Rinteln auf der Suche nach Relikten aus dem Zweiten Weltkrieg waren. Dabei stießen sie auch auf ein altes Beil, dass sich bei näherer Untersuchung als prähistorisch entpuppte. Das aus dem vierten Jahrtausend vor Christus stammende Flachbeil ist der älteste Metallfund Niedersachsens, wie die Archäologen berichten. Es war einst vermutlich mit Lederbändern an einem Holzschaft befestigt.

Das knapp zehn Zentimeter lange, trapezförmige Beil wurde einst aus fast reinem Kupfer gegossen, wie chemische Analysen zeigen. Das zeugt von hohem metallurgischen Know-how, denn Kupfer hat einen viel höheren Schmelzpunkt als beispielsweise Bronze. Aus der Zusammensetzung der Bleiisotopie und Arsenanteile ermittelten Chemiker, dass das Kupfer für das Beil aus dem Ostalpenraum stammt. Edelmetalle wurden demnach schon damals über weite Strecken transportiert und gehandelt.

Zwischen Bauern und Jägern und Sammlern

Der Fund wirft ein neues Licht auf die Mittlerrolle Niedersachsens in den tausende Kilometer überwindenden Fernbeziehungen, wie die Archäologen erklären. Denn in der Jungsteinzeit grenzten hier zwei Poopulationen aneinander: Im Süden lebten schon weiter entwickelte Bauern, die damals schon seit mehr als 1.500 Jahren sesshaft waren und damit ihre ursprüngliche Lebensweise als Jäger und Sammler aufgegeben hatten. Weiter im Norden aber begann diese sogenannte neolithishce Revolution zu dieser Zeit gerade erst.

Wie die Forscher erklären liegt der Fundort des Beils genau auf der Schwelle zwischen den beiden steinzeitlichen Räumen. Er könnte daher eine mit Bedacht gewählte territoriale Markierung darstellen. Möglicherweise wurde diese Waffe als Symbol in dem uralten Pass durch das Weserbergland platziert. Gefunden wurde es zumindst an einem sehr auffallenden Platz: auf einem steilen, zur Weser hin abfallenden Geländesporn.

"Hightech"-Schwert aus dem Mittelalter

Ebenso spektakulär ist ein sehr gut erhaltenes Schwert aus dem 10. Jahrhundert, das bei Baggerarbeiten in der Weser bei Großenwieden entdeckt wurde. Die knapp einen Meter lange Waffe weist auf der Klingenvorderseite die Namenssignatur +VLFBERH+T (Ulfberht) auf, auf der Rückseite findet sich ein von je drei senkrechten Strichen eingeschlossenes Rautenmuster. Damit gehört es zu den legendären Ulfberht-Schwertern. 


Diese „Hightech“-Waffen des Mittelaters wurden im fränkischen Reich gefertigt, gelangten aber trotz eines Ausfuhrverbotes in großer Zahl auch in die Hände der feindlichen Wikinger und Slawen. Im fränkischen Kerngebiet sind sie sehr selten.

Typisch für diese Schwerter ist eine Klinge aus einem sehr hochwertigem, gehärtetem Eisen, das qualitativ fast an modernen Stahl heranreicht, wie die Archäologen erklären. Dadurch war die Klinge auch ohne Damaszierung scharf, stabil und trotzdem leicht. Der Schwertgriff besteht aus weicherem Eisen, in die Klinge ist zudem eine Blutrinne eingekerbt. Weitere Analysen ergaben, dass der Griff zusätzlich mit Blechen aus einer Zinn-Blei-Legierung und der Knauf mit zwei sich kreuzenden Lederbändern verziert waren.

"Das jungsteinzeitliche Kupferbeil und das hervorragend erhaltene Ulfberht-Schwert aus dem frühen Mittelalter werfen ein völlig neues Licht auf unsere Landesgeschichte“, sagte die Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur, Gabriele Heinen-Kljajić. „Die Funde belegen, dass schon sehr frühe Kulturen ausgeprägte technologische und künstlerische Fertigkeiten besaßen, komplexe Handelsbeziehungen aufbauten und außerordentlich mobil waren.“

(Leibniz Universität Hannover, 30.07.2014 - NPO)

Nota. 
Die "Blutrinne" hat den Zweck, das Schwert leichter zu machen, ohne die Festigkeit zu beeinträchtigen. JE