Montag, 31. März 2014

Digitale Denkrevolution?




Dass die digitale Revolution nicht nur die Produktion des materiellen Reichtums und die Weise unseres Kommunizierens umwälzt, sondern schließlich wohl gar unsere Sitten prägen wird, gehört zu den Trivialitäten des Feuilletons. Sensation macht aber weiterhin die Vorstellung, die Digitalisierung könne unser Denken selber revolutionieren.

Das analoge Denken, das uns von der Natur mitgegeben wurde, trägt seinen Mangel schon an der Wurzel bei sich. Die analoge Repräsentation der Welt erweist sich, wo immer es um Genauigkeit geht, als mit einem irreduziblen Rest von Ungefähr behaftet. Er ist der Ursprung von aller Ungenauigkeit, von sachlichen Irrtümern sowohl als von logischen Fehlern, ewiger Quell von Missverständnissen und am Ende sogar aller Konflikte zwischen den Menschen.

Die computergestützte Digitalisierung aller Denkvorgänge würde den gesellschaftlichen Verkehr auf eine völlig neue und solide Grundlage stellen.

Digitalisierung ist die Bedingung des diskursiven Denkens. Der durch ein Wortzeichen identifizierte Begriff ist ein digit. Definiert wurde er durch andere Begriffe, die in einem geregelten und daher überprüfbaren Verfahren (‚Logik’) zu einem diskursiven Satz verknüpft wurden; und er lässt sich durch dasselbe Verfahren mit anderen Begriffen wiederum zu Sätzen verbinden, die neue Definitionen geben. Diskursives Denken und Rationalität bedeuten dasselbe. Die Beschreibung der Welt durch I und 0 ist der Schlusspunkt des diskursiven Denkens (und die Frage kommt auf, ob es in dieser Gestalt nicht automatisierbar ist).

In der gegenwärtigen globalen Klimadebatte erleben wir den Beginn dieses Umwälzungsprozesses. Wissenschaftliches Denken bestimmt nicht nur das politische Handeln, sondern wird durch ebendiesen Kanal schließlich Eingang ins Bewusstsein der Alltagsmenschen finden. Es ist gerade die Krise um das IPCC, die diese Hoffnung nährt. Keine Fallgrube, keine Fußangel bleibt lange unentdeckt, und der Tag ist abzusehen, wo die Wissenschaft der Welt wie ein einziges großes Wiki funktioniert.

Allerdings geht es hier immer noch erst um das Wie des Denkens und noch gar nicht um sein Was. Der Anschein einer grundsätzlichen Überlegenheit des Digitalen über das Analoge beruht auf der Verwechslung von Wissenschaft und Technik.

Die Verwissenschaftlichung des Lebens durch die Industriegesellschaft ist ein Mythos. Das tägliche Leben und daher auch das Alltagsdenken der Menschen ist heute nicht stärker von ‚Wissenschaft’ beherrscht als je. Viele Ergebnisse der naturwisschenschaftlichen Forschungen sind in den letzten zwei Jahrhunderten ins Allgemeinwissen eingegangen; aber nicht als Wissenschaft, sondern als Doxa. Und beherrscht wird unser Alltag von der Technik und nicht von der Wissenschaft. ‚Jeder ein Wissenschaftler’ ist ebensolcher Blödsinn wie ‚jeder ein Künstler’, in der Industriegesellschaft nicht minder als bei den Ackerbauern.

Allerdings hat sich die Technik, die unsern Alltag durchdringt, in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend(!) verändert. Die industrielle Zivilisation hat eine mechanische Technik hervorgebracht, die auf dem linear-kausalen Denken der cartesisch-Newton’schen Naturwissenschaft beruhte. In der Wissenschaft selbst ist das Denken seit bald anderthalb Jahrhunderten von der systemischen Denkweise der Thermodynamik verdrängt worden, die nicht einzelne Ursachen mit einzelnen Wirkungen verkettet, sondern die mehr oder minder wahrscheinlichen Veränderungen in einem ‚Feld’ unter sich ändernden Bedingungen beobachtet. Mit einiger Verzögerung hat dieses Denken schließlich Eingang in die Technologie gefunden, seit der Entwicklung von Kybernetik und Informationswissenschaft Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die Computerisierung erst der Produktionsabläufe, dann zunehmend des bürgerlichen Alltags, bekannt unter dem Schlagwort Digitale Revolution, ist das Ergebnis.

Nicht das Wissen ist digital geworden, sondern die aus dem Wissen entwickelte Technik. Digital ist das Verfahren des (natur)wissenschaftlichen Denkens geworden, aber nicht sein Gehalt. Der ist so ‚bildhaft’ und ‚anschaulich’ wie je. Parameter der mechanischen Technik des Industriezeitalters war die zweidimensionale Konstruktionszeichnung ‚jenseits der Zeit’. Der Höhepunkt und Inbegriff des digitalen Denkens ist das animierte Hologramm* in zeitlicher Dynamik. Kein digit, sondern ein anschauliches, anschaulicheres ‚Modell’. Die Technik erlaubt uns, das Modell für diesen oder jenen Zweck einzusetzen. Aber sie sagt uns nicht, was ein Zweck ist. Das hat das anschauliche Denken ‚vor’ oder ‚hinter’ den digitalen Verfahren immer noch selbst zu entscheiden.

Der wissenslogische Zugewinn der Digitalen Revolution ist immens. Aber er ist nicht positiv – etwa in dem Sinn, dass sich nun ‚Alles erfassen’ ließe; sondern negativ, in dem Sinn, dass das, was sich ‚nachhaltig’ der digitalen Erfassung verweigert, nunmehr identifizierbar wird. Digitalisieren, d. h. als Zeichen mit andern Zeichen zu einem sinnvollen ‚Diskurs’ verknüpfen, lässt sich nur Relationelles. Diskurs ist die Beschreibung einer Relation. Was nicht darin aufgeht, muss ein Quale sein. Als solches lässt es sich nicht beschreiben, sondern nur anschauen. Die Digitalisierung des Relationellen bringt die Qualitäten zur Anschauung.

Allerdings stellt das digitale Zeitalter die Politik auf eine neue Grundlage. Politik ist die Wahl der Zwecke – und erst danach die Suche nach der geeigneten Technik. Die Fortschritte der Digitalisierung sind ein Prüfstein, ein Mittel der Unterscheidung. Digitalisierung scheidet das Was vom Wie, und zwar unwiderruflich.
 

Samstag, 29. März 2014

Das Internet, eine Ausdehnung des Nervensystems.


aus Neue Zürcher Zeitung, 23. 10. 2010

Das Internet als Medium der Bewusstseinserweiterung und als Medium der Bewusstseinstrübung.

Von Uwe Justus Wenzel

Das Internet weckt immer wieder Hoffnungen auf epochale menschheitsgeschichtliche Entwicklungsschritte. Die Hoffnungen werden freilich durch Sorgen gedämpft. – Am Ende bleiben Fragen.

Selbst gestandene Computerfreaks und geborene Internauten bekommen es allmählich mit der Angst zu tun: Wächst da nicht etwas über alle Köpfe? Wächst es nicht sogar durch die Köpfe und auch durch die Körper hindurch, auf denen die Köpfe sitzen? Oder anders gefragt: Zappeln wir, die wir auf benutzerfreundlichen Oberflächen zu surfen glauben, nicht längst wie Fische im Netz – im Netz der Netze?

Jaron Lanier, der einfallsreiche amerikanische Informatiker, Musiker und bildende Künstler, der Ende der achtziger Jahre den Begriff «virtuelle Realität» in Umlauf gebracht hat, ist ein – prominenter – Protagonist der digitalen Revolution. Gleichwohl hat er es für nötig befunden, in einem vor einigen Monaten publizierten Manifest seinen Zeitgenossen mahnend ins Gewissen zu rufen: «You are not a gadget.» Die Menschen sollen sich nicht zu Anhängseln einer weltumspannenden elektronischen Maschinerie herabwürdigen, sie sollen sich nicht ihrer Freiheit und Individualität begeben, wenn sie einloggen. Das ist womöglich leichter gesagt als getan oder unterlassen. Denn schliesslich nennt Lanier, was er als Bedrohung empfindet, wenig hoffnungsvoll «kybernetischen Totalitarismus» oder auch «digitalen Maoismus».

Ein profaner Prophet

Bereits Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat Marshall McLuhan (1911-1980), der profane Prophet und in vielem unübertroffene Diagnostiker des «Computerzeitalters», in den Blick genommen, was nicht nur Lanier heute zunehmend bedrängt. Er hat das Phänomen in nicht weniger drastischen Worten, aber doch weniger emotionsgeladen und analytisch scharfsichtiger beschrieben. Wir Menschen, so McLuhan, sind in unserem Verhältnis zu den neuen Medientechnologien unvermeidlich so etwas wie deren «Servomechanismus». Soll, frei übersetzt, heissen: Um uns ihrer zu bedienen, müssen wir ihnen dienen. Das freilich gilt im Rahmen der Analyse des kanadischen Kommunikationstheoretikers für alle Technologien: Eine jede, von der Axt bis zur Eisenbahn, vom Rad bis zum Fernsehen, prägt die Situation derer, die sie anwenden oder nutzen, in beträchtlichem Ausmass.

Ebendies ist auch der Sinn des zu Tode zitierten Diktums «the medium is the message»: Jedes Medium oder jede Technologie – McLuhan gebraucht die Ausdrücke wie annähernd deckungsgleiche Begriffe – bringe als «Botschaft» einen neuen Massstab, eine neue Geschwindigkeit und neue Muster in die «human affairs». Technologien bzw. Medien sind für McLuhan «extensions of man», sie erweitern den menschlichen Körper, verlängern dessen Glieder und Organe in die Welt hinein. Obgleich – oder auch: weil – das so ist, können wir über sie nicht – nicht absolut – frei verfügen. Derlei zu glauben, wäre eine Illusion. Wäre es umgekehrt nicht aber ebenso sehr eine Verkennung der Situation, wenn sich der Homo technicus von heute für unfrei – total unfrei – hielte?

Im Falle der neuen Technologien scheint die Sache vertrackt zu sein. In einem nämlich unterscheiden sie sich in McLuhans Perspektive von denjenigen vorangegangener Zeiten. Ältere seien «partial und fragmentarisch», die Technologien der elektronischen Medien hingegen – McLuhan hat neben Telefon und Television, neben Film und Funk durchaus schon die Computer vor Augen – seien «total und inklusiv». Das sind sie nicht nur, weil sie ältere Technologien überlagern und durchdringen, sondern auch und besonders deswegen, weil sich in ihnen das menschliche Nervensystem extrakorporal und transpersonal ausdehne und einem neuen, bis dato ungekannten «common sense» den Weg ebne. Wäre es nicht bloss der nächste logische Schritt, fragt sich McLuhan 1964 in Understanding Media, auch unser Bewusstsein in die «Computerwelt» zu transferieren und aus der Menschheitsfamilie ein einziges Bewusstsein, «a single consciousness», werden zu lassen?

Mit dieser – nur vage anvisierten – Form einer «Totalisierung» scheint für McLuhan, anders als für Lanier, ein Freiheitsmoment einherzugehen. Zumindest deutet er an, dass solch ein globales Bewusstsein «weder betäubt noch zerstreut» zu werden vermöchte von der Unterhaltungsindustrie und deren «narzisstischen Illusionen». Narziss, griechisch: Narkissos, der narkotisierte Jüngling, der sich in sein Spiegelbild verliebt, verkörpert für McLuhan das Verhältnis der Menschheit zu ihren medialen Selbsterweiterungen. Auch und gerade wenn das Zentralnervensystem ausgedehnt und damit «exponiert» wird, scheinen Betäubungen unvermeidlich, ja nötig zu sein – als Schutz vor Überreizung. Wie könnte da aber überhaupt ein klares, illusionsloses Selbstbewusstsein erlangt werden?

Ein geistlicher Geist

Der, von dem Marshall McLuhan sich offenbar hat inspirieren lassen, durfte immerhin auf göttlichen Beistand vertrauen. Der Jesuit, Philosoph und Naturwissenschafter Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) sah die gesamte kosmische Evolution, nicht nur die der Erde, im menschlichen Zentralorgan, im Gehirn, kulminieren: Die Einzelhirne schlössen sich, indem sie an denselben Problemen arbeiteten, zusammen und bildeten die «’graue Substanz’ der Menschheit». In einer «kollektiven Cerebralisation» konvergierten die Menschen zur Menschheit, deren intellektuelle Evolution sie dereinst – wer weiss – über die materielle Sphäre hinausheben werde. Dabei spiele, so Teilhard, «die erstaunliche Leistung der Elektronenautomaten» keine geringe Rolle. Computer werden dergestalt wie Gehirne zu Medien des – einen – Geistes, der im Verlaufe des Weltprozesses zu sich und zu Gott kommt: im «Punkt Omega».

Der angeblich zunehmenden geistigen Konzentration korrespondiert auf technologisch-materieller Seite einstweilen jedoch eine Dezentrierung, die Ausbreitung und netzartige Verknüpfung der «Elektronenautomaten». Teilhard selbst sprach von einer «denkenden Hülle», der «Noosphäre», von der der Globus umgeben werde. In ihr wähnte er ein «harmonisches Bewusstseinskollektiv» wachsen, eine Art «Überbewusstsein».

Innervation oder Enervation?

Die in Gestalt des Internets inzwischen real existierende Erdumhüllung rechtfertigt die Annahme eines kollektiven Bewusstseins allerdings schwerlich. Nicht nur ist bisher lediglich eine Minderheit von Gehirnen ans «weltweite» Netz angeschlossen. Auch steht in Zweifel, ob, was den Globus da umspannt, mit Recht als «denkende Hülle» bezeichnet werden dürfe und nicht vielmehr – zumindest auch – ein elektronischer Schmutzfilm genannt zu werden verdiene. Auch die «digitalen» Gesellungsformen, die sich ausbreiten, dienen nicht durchwegs der Besinnung. Aus dem Cyberspace dringt jedem, der sich hineinbegibt, das Geschnatter und Geplapper der Chatrooms und das Gezwitscher narzisstischer Mikroblogs entgegen. Dieses Begleitgeräusch der telekommunikativen Evolution bestätigt eine andere Prognose McLuhans. Das «elektrische Zeitalter», wie er es nannte, bringe die Rückkehr zur oralen Kommunikation mit sich, den Einzug ins global village. Und Chats sind tatsächlich, wie ihr Name verrät, verschriftlichte Formen mündlichen Austauschs. Mit der Oralität aber steht, folgt man McLuhan weiter, Terror ins Haus. «Terror», schreibt er in The Gutenberg Galaxy (1962), «is the normal state of any oral society, for in it everything affects everything all the time.»

Es handelt sich um den Terror der ansteckenden Nervosität – die nur das Komplement der Selbstbetäubung ist. Im globalen Dorf einer allseitigen Verdrahtung der Nervenstränge breiten sich Erregungsenergien ungehemmt aus und können jeden jederzeit affizieren - enervieren. Teilhard hatte eine «Innervation» der Gesellschaft kommen sehen. Dieser Innervation entspricht, was McLuhan als «Externalisierung» des menschlichen Sinnes- und Nervensystems beschrieben hat: In der elektronischen Aussenhülle des Globus begegnet der Mensch der Menschheit als seiner eigenen Haut.
Vereinigt und vergeistigt sich die Menschheit in dem technisch übermittelten Nervenreiz - immerhin einer Vorform des Denkens? Oder geht sie sich bloss auf die Nerven? Zerstreut sie sich – oder sammelt sie sich? Betäubt sie sich – oder erwacht sie?


Nota.

Wenzels wie immer kluge Überlegungen erlaube ich mir zu ergänzen durch einen Gesichtspunkt, den ich selber entwickelt zu haben mich rühmen darf – die Unterscheidung zwischen ‘unserer’ Welt und  ‘meiner’ Welt .

Das Internet und alle materielle wie menschliche Hard- und Software, die daran hängen, entstammt nicht nur ‘unserer’ Welt – es wir dort auch bleiben. Es greift zwar tiefer als jedes andere Medium zuvor – sofern wir die Sprache selbst einmal ausnehmen – in ‘meine’ Welt hinein: weil es zwar der digitaler Technik entstammt, in der ‘unsere’ Welt womöglich ihren endgültigen Daseinsmodus gefunden hat; aber seine mächtigste Wirkung auf ‘analogem’ Weg erzielt – in der Macht der virtuellen Bilder! (Man möchte sagen, digitale Revolution und Iconic Turn sind Wechselbegriffe.) Die gehen tiefer und fester in ‘meine’ Welt ein, als es Begriffe und logisches Denken je vermocht haben. Aber Leben erhalten sie erst dort. Ihre Macht über mich ist die Macht meiner Einbildungskraft über sie. Und ob sie meine Einbildungskraft herausfordern und ihre Virtuosität ausbilden, oder ob sie sie überschwemmen und ersäufen, das… kommt ganz drauf an.

Die Einführung des ersten Digits ins Gemütsleben der Menschen, des gesprochenen Wortes, hat die ihre bildhafte Einbildungskraft nicht verödet, nein, ganz gewiss nicht. Auch nicht der Untergang Ende des mythologischen Zeitalters in der Verwissenschaftlichung der Welt (wie man das nannte). Sonst hätten sie die digitale Technologie ja nicht erfinden können.

Der Quell des tatsächlichen und produktiven Denkens ist das Sprudeln anschaulicher Bilder. Die Reflexion tritt hinzu und ‘macht was draus’, aber erfinden kann sie nichts. Die virtuellen Bilder können meine Einbildungskraft nur zupappen, wenn ihr zuvor im Korsett des diskursiven Regelmaßes die Luft genommen wurde. Wie und womit, und vor allem: von wem Kinder “beschult” werden – das spielt allerdings eine Rolle! Die Bildung sollte sich schon darauf besinnen, dass der Ursprung der Vernunft nicht logisch (‘digital’), sondern ästhetisch (‘analog’) ist. Wenn alles, was irgend digitalisierbar ist, erst seinen gehörigen Platz in den Diskursen gefunden haben wird, dann bekommt die Einbildungskraft wieder freies Spiel.
JE

Freitag, 28. März 2014

Digitale Demenz.

institution logoMythos Digitale Demenz: Machen digitale Medien tatsächlich dumm, aggressiv und einsam? 

Bernd Hegen  
Referat Öffentlichkeitsarbeit
Universität Koblenz-Landau 

27.03.2014 13:54 

Forscher der Universität Koblenz-Landau widerlegen Behauptungen zu den negativen Auswirkungen des Internets anhand einer systematischen Betrachtung der wissenschaftlichen Befundlage.

In populärwissenschaftlichen Büchern wie „Digitale Demenz“ von Manfred Spitzer wird über die schädlichen Auswirkungen von digitalen Medien berichtet und vor der Nutzung des Internets gewarnt. Medienpsychologen der Universität Koblenz-Landau zeigen, dass Spitzers Thesen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen wenig gemein haben. Die Bestandsaufnahme ist in der „Psychologischen Rundschau“ erschienen.

Um populäre Behauptungen zu den schädlichen Auswirkungen von Internet und Co. möglichst objektiv mit dem aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand abzugleichen, suchten Markus Appel und Constanze Schreiner gezielt nach Meta-Analysen zum Thema digitale Medien. Meta-Analysen sind Studien, in denen vorliegende Befunde vieler Untersuchungen gemeinsam betrachtet werden, mit dem Ziel, einen durchschnittlichen Trend der wissenschaftlichen Ergebnisse zu ermitteln.

Laut Appel und Schreiner widersprechen die wissenschaftlichen Ergebnisse auf vielen Gebieten klar den Thesen zu den schädlichen Auswirkungen des Internets. Nach dem jetzigen Stand der Forschung führe vermehrte Internetnutzung im Mittel weder zu weniger sozialem Austausch, noch zu weniger gesellschaftlich-politischem Engagement. Auch sind intensive Internetnutzer nicht einsamer als Wenignutzer.

Eltern fehlinformiert und fehlgeleitet durch „Digitale Demenz“?

„Die alarmistischen Thesen von Spitzer und Co. haben wenig mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand zu tun“ so Appel, der eine Professur für Medienpsychologie innehat. Laut den Studienautoren verschleierten die nicht sachgemäßen Thesen zu den Auswirkungen von Internetnutzung den Blick für die Herausforderungen, die mit einer Verbreitung von Computer und Internet im Alltag verbunden sind. Appel befürchtet, dass nicht zuletzt Eltern und Lehrkräfte durch Bücher wie „Digitale Demenz“ fehl informiert und damit fehlgeleitet werden. „Wichtig erscheint mir, dass Erziehungspersonen die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nicht von Vorneherein verteufeln, denn dann wird es schwer, ein kompetenter Gesprächspartner in Sachen Internet zu sein“.

Neben den klaren Diskrepanzen mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand werden in der Studie auch Ergebnisse berichtet, in denen sich Spitzers Thesen und der wissenschaftliche Kenntnisstand überlappen. Diskutiert werden die Aspekte Wohlbefinden, Übergewicht und Aggressionen. Die Zusammenhänge fallen allerdings im Mittel eher schwach aus, so dass auch hier kein Anlass für eine alarmistische Haltung gegeben sei. Im Hinblick auf das menschliche Lernen widerspricht die Befundlage wiederum den Thesen zur „Digitalen Demenz“. Im Mittel ist der größte Wissenszuwachs zu verzeichnen, wenn Instruktionen Face-to-face-Anteile und Computer- bzw. und Internetanteile enthalten, auch die Wirkungsstudien zum Lernen mit Computerspielen zeigen im Durchschnitt positive Effekte.

Nicht berücksichtigt haben Appel und Schreiner Mythen über die keine bzw. keine meta-analytischen Erkenntnisse vorlagen. Dies betrifft beispielsweise die Vermutung, dass das routinemäßige Verwenden von Navigationssystemen zu einer schlechteren räumlichen Orientierung führt.

Ein Grund für die Popularität Medien-kritischer Publikationen sehen Appel und Schreiner in der Bezugnahme vieler Autoren auf neurowissenschaftliche Theorien und Befunde. Diese hätten allerdings in populärwissenschaftlichen Büchern häufig keinen direkten Bezug zu den Kerninhalten, wirkten aber dennoch gerade für Laien überzeugend.

Die Studie:

Appel, Markus & Schreiner, Constanze (2014). Digitale Demenz? Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung. Psychologische Rundschau, 65.

Link zum Volltext als kostenfreier Preprint:
http://www.uni-koblenz-landau.de/landau/fb8/ikms/person/appel/2013_appel-schrein...


Kontakt:

Universität Koblenz-Landau
Fachbereich Psychologie
Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik
Prof. Dr. Markus Appel
E-Mail: appelm@uni-landau.de
Telefon: +49 (0)6341 280-36714
Sekretariat: +49 (0)6341 280-36711

Pressekontakt:
Universität Koblenz-Landau
Pressestelle Campus Landau
Kerstin Theilmann
Tel.: +49 (0) 6341 280-32219
E-Mail: theil@uni-koblenz-landau.de

Weitere Informationen: http://www.uni-koblenz-landau.de/landau/fb8/ikms/person/appel/2013_appel-schrein...

Donnerstag, 27. März 2014

Wikinger-Ausstellung im British Museum.

Hunterston Brooch, c. 700, Hunterston, Ayrshire, Scotland. Gold, silver, amber. Diam. 12.2cm.
aus nzz.ch, 27. März 2014, 05:30                                                      Hunterston Brooch, c. 700, Hunterston, Ayrshire, Scotland

Nicht jede Schlacht ein Triumph.
Das British Museum präsentiert neue Fakten und Funde in einer grossen Schau über die Wikinger. Allzu Erklärendes und Folkloristisches wird dabei vermieden. Der zusätzlich angestrebte Versuch, das Image der kriegerischen Seefahrer zu verändern, überzeugt allerdings weniger.

von  Marion Löhndorf

Angeblich will die Wikinger-Ausstellung im British Museum mit dem Mythos aufräumen, laut dem die Wikinger eine mordende und brandschatzende Horde von Plünderern und blutrünstigen Kriegern waren. Tatsächlich aber zeigt die Ausstellung vor allem Belege dieser Aktivitäten, die ihre Zeitgenossen – mit jahrhundertelangem literarischem Nachhall – in Schrecken versetzten. Zu besichtigen sind jede Menge Helme, Schwerter und andere Kampfwerkzeuge. Leidenschaftliche Aufrufe zum Töten in der Schlacht sind an den Museumswänden zu lesen und entsetzte Beschreibungen derer, die den Weg der Invasoren kreuzten. Auch Beutestücke glänzen als Beweis ihrer Raubzüge, Gold und Silber und exotische Objekte, von den Seefahrern aus der ganzen Welt zusammengetragen. In einer Vitrine lagern geköpfte Skelette, die erst vor wenigen Jahren in Dorset gefunden wurden. An ihnen lassen sich zahlreiche Schwertwunden ausmachen: Bei den Toten handelt es sich um Wikinger. Den Kuratoren war die Erkenntnis wichtig, dass die skandinavischen Angreifer und Marodeure nicht immer die Gewinner waren, auch wenn sie den Krieg glorifizierten. Aber das hätte man sich ohnedies denken können.

Lewis-Schachfiguren, 1150-1145. Uig, Lewis, Schottland

 

Piraten, Bauern, Händler


Den angepeilten Imagewandel führt die Ausstellung also nicht herbei. Doch lehrt sie den Uneingeweihten einiges. Zum Beispiel, dass der Name Wikinger keine ethnische Zuordnung, sondern eher ein Tätigkeitsprofil ist: So genannt wurden Piraten oder Brandschatzer, die zwischen 800 und 1050 aus skandinavischen Ländern kamen. Ein Volk namens Wikinger gab es nicht; über den Ursprung der Bezeichnung existieren unterschiedliche Theorien. Viele Wikinger machten saisonal – manche nur in ihrer Jugend – die Meere unsicher, um sich dann als Bauern oder Kaufleute niederzulassen, oft in den zuvor überfallenen Gebieten. Im Handel übten sie sich auch schon unterwegs und schufen dabei, nach den Worten des Kurators Gareth Williams, «ein beispielloses globales Netzwerk von Kontakten und Einflüssen». Auf ihren Schiffen transportierten sie Sklaven, mit denen sie regen Handel trieben, und Güter wie Hölzer, Felle, Seide und Bernstein.

Ein Mythos sind auch die Hörner an den Helmen der Wikinger: Es gibt sie nicht, jegliche Hinweise darauf fehlen. Stattdessen trugen die Wikinger, Männer so gut wie Frauen, Augen-Make-up, weil sie der Meinung waren, es erhöhe und erhalte ihre Schönheit. Die wildesten Krieger tätowierten sich und feilten tiefe, horizontale Furchen in ihre Vorderzähne, um ihre Gegner einzuschüchtern und die Verachtung sozialer Normen anzudeuten. Bei den Arrivierten stand Schmuck hoch im Kurs: Im British Museum ist beispielsweise ein massiver Goldreif von so enormem Durchmesser zu sehen, dass kaum vorstellbar ist, wie er um den Hals getragen werden konnte – aber dafür war er gedacht. Selbst auf der Hinweistafel an der Vitrine klingt das Staunen darüber an. Doch wer den grössten, teuersten und meisten Schmuck trug, hatte es am weitesten gebracht. Die Wikinger waren zudem, wie die gezeigten Objekte belegen, hochbegabte Goldschmiede mit viel Feingefühl für filigrane Detailgestaltung.
 
Silbermünze von Anlaf (Olaf) Guthfrithsson von Northumbria, von 939 bis 941 König von Jorvik, England.

Langsam geleitet die Schau durch dunkelgrau ausgestaltete und mit dramatischen Spotlights ausgeleuchtete Gänge auf ihr Herzstück zu, das bedeutendste Statussymbol der Wikinger: ein Schiff, ein königliches dazu. Um mit einem Superlativ prunken zu können, bietet die Ausstellung das mit 37 Metern längste noch erhaltene Wikingerschiff der Welt auf – oder das, was davon übrig geblieben ist. Nur ein paar Planken des Schiffes aus dem Jahr 1025 gibt es noch – nach viel sieht das nicht aus. Um das Ganze vorstellbar zu machen, wurde ein Metallskelett in den Museumsraum gebaut, das die Form des Bootes nachempfindet, welches Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im dänischen Roskilde gefunden wurde. Die Holzstücke wurden an dem Metallgestell angebracht, wo man ihren ursprünglichen Platz vermutete.

 

Ohne Schiffe keine Wikinger


Ein Schiff so spektakulär ins Zentrum der Ausstellung zu rücken, ist fraglos naheliegend. Denn das Fortbewegungsmittel war das A und O des Wikinger-Lebens und -Todes: Ihre Boote waren derart wendig und mit solch handwerklicher Meisterschaft erdacht und erbaut, dass sie nicht nur die Meere, sondern auch Flüsse befahren und so tief ins Innere fremder Länder eindringen konnten. Hochrangige oder besonders angesehene Personen wurden in Schiffen beerdigt. Das Schiff war in der Kunst, in der Religion und in Symbolen gegenwärtig. Ohne Schiffe keine Wikinger – so schreibt es die dänische Königin im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Mit ihren wendigen Fortbewegungsmitteln waren die Wikinger die Ersten, die vier Kontinente erreichten. Sie kamen bis Neufundland, Kanada, Nordafrika und nach Asien. Auch in Russland und Byzanz hinterliessen sie Spuren: In der Hagia Sophia im heutigen Istanbul finden sich Wikinger-Runen.

Penrith Silberbrosche, ca. 900, aus der Nähe von Penrith in der Grafschaft Cumbria, England

Was die Besucher im British Museum vielleicht besonders interessiert, ist das Erbe der Wikinger in ihrem eigenen Land. So hinterliessen die skandinavischen Eindringlinge, um nur ein Beispiel zu nennen, zahlreiche Spuren in der englischen Sprache: Aus «vindauga» wurde «window», aus «systir» wurde «sister» und aus «husbondi» wurde «husband» – die Liste ist lang. Auch viele Ortsnamen erinnern an die Wikinger, alle, die auf «-by», «-thorpe» oder «-thwaite» enden zum Beispiel. Die Wikinger mischten sich mit den Einheimischen. Ihre DNA ist heute nicht nur in England, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt zu finden.

Die Schau zieht auch an Wochentagen drängelnde Zuschauermassen an, denn hier handelt es sich nicht um ein obskures, untergegangenes Volk, sondern um ein evokatives, scheinbar vertrautes Sujet. Vielleicht, um dem Thema den Folkloreton zu nehmen, verzichteten die Kuratoren auf besondere Veranschaulichung, anders als die stärker erklärenden Ausstellungen des Hauses in der jüngeren Vergangenheit, etwa diejenige über Pompeji oder über den altägyptischen Glauben. Die Fundstücke ruhen säuberlich kategorisiert und getrennt in den Vitrinen – Schmuck gesellt sich hier zu Schmuck, Schwert zu Schwert. Wie die Dinge im Kontext ausgesehen haben mögen, bleibt der Phantasie der Besucher überlassen. Ein paar skandinavische Landschaftspanoramen an der Wand helfen da nicht viel weiter.

Vale of York Hoard, AD 900., Depotfund von Harrogate

Neue Ausstellungshalle 

Der Stil der Darbietung ist puristisch, abgesehen von einem melodramatischen, aber ziemlich überflüssigen Soundtrack aus Meeresrauschen, der die Zuschauer auf den Eintritt in den grossen Saal vorbereitet, in dem das Schiff zum Staunen einladen soll. Wer tiefer in das Leben und die Geschichte der Wikinger eintauchen will, kann auf den umfangreichen Katalog zurückgreifen, der sich in fünf übersichtliche Kapitel von «Glauben und Rituale» bis hin zu «Kriegsführung und militärische Expansion» gliedert. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem dänischen Nationalmuseum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin, wo sie ab September im Martin-Gropius-Bau gezeigt wird. In London wird mit dem gross aufgezogenen Thema zugleich übrigens eine neue Ausstellungshalle des British Museum eingeweiht. Die sogenannte Sainsbury Exhibitions Gallery bietet auf 1100 Quadratmetern Fläche üppigen Platz für weitere Grossausstellungen in der Zukunft.

Bis 22. Juni 2014. Publikation: Gareth Williams, Peter Pentz, Matthias Wemhoff: Vikings – Life and Legend. British Museum, London 2014. 288 S., 350 Illustrationen, £ 25.–.

Mittwoch, 26. März 2014

Wie die Wikinger ohne Kompass auch im Dunklen navigierten.


aus scinexx

Wikinger:
Kurs halten auch in der Dämmerung?
Rätselhaftes Artefakt aus Grönland könnte Teil eines bisher unbekannten Navigationsinstruments sein

Findige Seefahrer: Um auch in der Dämmerung ihren Kurs zu halten, könnten die Wikinger ein bisher unbekanntes Navigations-Hilfsmittel genutzt haben, ein Dämmerungsbrett. Darauf deutet ein auf Grönland entdecktes Artefakt aus der Wikingerzeit hin. Mit diesem ließ sich die Position der Sonne bestimmen, selbst wenn sie schon knapp unter dem Horizont stand, wie Forscher herausfanden.

Die Wikinger waren Meister der Seefahrt. Sie dominierten nicht nur die Küsten Nordeuropas, sie überquerten vor rund tausend Jahren auch schon den Atlantik. Im Gegensatz zu späteren Seefahrern fehlte ihnen jedoch ein wichtiges Navigationswerkzeug: der Magnetkompass. Sie waren für ihre Orientierung auf See vor allem auf die Sonne angewiesen, die während der langen Polarsommer lange am Himmel steht.

Aus archäologischen Funden ist bekannt, dass die Wikinger-Seefahrer einen einfachen Sonnenkompass und ein sogenanntes Horizont-Brett nutzten, um anhand des Sonnenstands und der Position der Sonnenauf- und Untergänge am Horizont ihre geografische Breite und Fahrtrichtung grob zu bestimmen. Vor einigen Jahren entdeckten Forscher zudem ein weiteres Navigations-Hilfsmittel der Wikinger: den Sonnenstein. Dieser besteht aus einem Doppelspat-Kristall, mit dem sich die Schwingungsrichtung des einfallenden Sonnenlichts bestimmen lässt. Die Wikinger konnten damit die Sonne orten, auch wenn sie hinter Wolken verborgen stand.

Rätselhaftes Artefakt

Nach Ansicht von Balázs Bernáth von der Eötvös Universität in Budapest und seinen Kollegen besaßen die Wikinger aber noch eine Navigationshilfe, ein sogenanntes Dämmerungsbrett. Ein unter den Ruinen einer Benediktinerabtei im grönländischen Uunartoq entdecktes Artefakt aus der Wikingerzeit brachte sie auf dessen Spur. Das Fundstück besteht aus der Hälfte einer flachen, sieben Zentimeter großen Scheibe. In deren Mitte sitzt ein 17 Millimeter Loch, auf der Scheibe sind zudem zwei Linien eingeritzt, die Schattenverläufe markieren könnten. 



An einer Seite der Scheibe kennzeichnet eine Reihe von kurzen parallelen Einritzungen zudem eine Richtung. "In früheren Analysen des Artefakts wurden diese Ritzspuren bereits als grobe Markierung der Nordrichtung angesehen", erklären die Forscher. Das Artefakt wäre dann eine Art Sonnenkompass und die beiden Linien könnten den Schattenwurf zur Tagundnachtgleiche und zur Sommersonnwende markieren.

Mit Schattenstab und Sonnenstein

Allerdings: Für einen normalen Sonnenkompass ist das Mittelloch viel zu groß und die beiden Linien sitzen zu weit innen, wie Bernáth und seine Kollegen konstatieren. Ihrer Ansicht nach handelt es sich daher um eine spezialisierte Form dieses Instruments, ein Hilfsmittel, mit dem die Wikinger vor allem bei niedrigen Sonnenstand und in der Dämmerung navigieren konnten. Dabei saß ursprünglich ein kegeliges Mittelstück im Zentrum des "Dämmerungsbretts", wie sie das Instrument bezeichnen. Dieses Mittelstück warf bei noch sichtbarer Sonne einen Schatten.

War die Sonne aber nicht sichtbar oder bereits unter dem Horizont, dann wurde das Dämmerungsbrett mit zwei Hilfsmitteln kombiniert: Ein Sonnenstein half dabei, die genaue Position der unsichtbaren Sonne zu bestimmen. Dann kam ein sogenannter Schattenstab zu Einsatz, der waagerecht wie ein Zeiger auf den Mittelkegel aufgesetzt wurde und den Schattenwurf simulierte.

Nordrichtung bis auf 4 Grad genau

Um zu testen, wie präzise die Navigation mit einem solchen Dämmerungsbrett wäre, führten die Forscher ein Experiment mit Nachbauten dieses Instruments durch. Dabei ließen sie Studenten der Budapester Universität bei Sonnenständen zwischen 18° über dem Horizont und 8° darunter zunächst die Position der Sonne mit Hilfe von Sonnensteinen aus Kalzitkristallen bestimmen. Die Sonne war zu dieser Zeit von der Skyline der Stadt verdeckt und daher nicht direkt beobachtbar.

Dann sollten die Studenten mit Hilfe des Dämmerungsbretts und einem Schattenstab die Nordrichtung finden. Wie sich zeigte, gelang dies relativ gut: Der beste Teilnehmer im Experiment hatte eine Abweichung von nur 1,5°, die anderen blieben im Bereich von maximal 11° Abweichung von der Nordrichtung. Im Durchschnitt lag die Fehlerspanne bei 4°. "Mit ein bisschen Training kann die Genauigkeit dieser Navigation sicher noch deutlich verbessert werden", konstatieren die Wissenschaftler.

Navigation rund um die Uhr

Ihrer Ansicht nach erklärt ihre Interpretation des grönländischen Artefakts nicht nur dessen geringe Größe und großes Mittelloch. Die eingeritzten kurzen Rillen wären dann in der Tat eine Nordmarkierung, die beiden längeren Linien würden den Schattenverlauf zu Reisedaten der Wikinger von Grönland nach Norwegen oder zurück anzeigen.

"Zusammen mit dem Sonnenkompass und Sonnenstein könnte das Dämmerungsbrett den Wikingern eine Navigation rund um die Uhr ermöglicht haben", konstatieren die Forscher: Nachts richteten sie sich nach dem Nordstern, tagsüber nach dem Sonnenkompass und bei bewölktem Himmel oder in der Dämmerung nutzten sie das Dämmerungsbrett. (Proceedings of the Royal Society A: Mathematical and Physical Sciences, 2014; doi: 10.1098/rspa.2013.0787)

(Royal Society, 26.03.2014 - NPO)

Nota.

Bis zur Erfindung des Magnetkompasses geschah Schifffahrt vornehmlich auf Sichtweite entlang den Küsten; daher die Leuchttürme entlang der Mittelmeerküste.-  Die Wikinger gingen aber auf Hohe See.
JE 

Dienstag, 25. März 2014

Das evangelische Pfarrhaus.

institution logo

Der Pfarrer lebte im Glashaus 
Stephan Laudien  
Stabsstelle Kommunikation/Pressestelle
Friedrich-Schiller-Universität Jena
 


13.03.2014 09:47

Kirchenhistoriker der Universität Jena gibt Buch über „Das evangelische Pfarrhaus“ heraus
 
Hermann Hesse, Jean Paul, Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche, Gudrun Ensslin und Angela Merkel haben etwas gemeinsam: Sie alle wuchsen in einem evangelischen Pfarrhaus auf. Weil zahlreiche Dichter und Denker, Philosophen und Wissenschaftler im Pfarrhaus ihre Wurzeln haben, rankt sich ein Mythos um diesen Ort. Dieser Mythos wurde 2011 auf einer Tagung an der Friedrich-Schiller-Universität entzaubert. Nun liegt ein Buch über das Phänomen evangelisches Pfarrhaus vor, das den Untertitel „Mythos und Wirklichkeit“ trägt und verschiedene, interdisziplinäre Beiträge versammelt.
 

„Mit dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments 1918 rutschte die evangelische Kirche in Deutschland in eine Legitimationskrise, die unter anderem eine Neubesinnung auf das Pfarrhaus als Geburtsort der deutschen Dichter und Denker mit sich brachte“, sagt Prof. Dr. Christopher Spehr von der Universität Jena. Der Kirchenhistoriker hat gemeinsam mit Thomas A. Seidel, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für thüringische Kirchengeschichte und Geschäftsführenden Vorstand der Internationalen Martin-Luther-Stiftung, das Buch „Das evangelische Pfarrhaus“ herausgegeben.

Spehr verortet die kulturelle Vertiefung des „Mythos Pfarrhaus“ in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Institution evangelisches Pfarrhaus reicht jedoch bis in die Reformationszeit zurück.
 

Über Jahrhunderte habe der Pfarrer im deutschsprachigen Raum eine Sonderstellung in seiner Gemeinde inne gehabt, sagt Christopher Spehr. Das Pfarrhaus sei gleichsam als „Glashaus“ wahrgenommen worden. Erwartete man vom Pfarrer doch eine beispielgebende Lebensführung. Dazu gehörten eine vorbildliche Ehe sowie die gottgefällige Erziehung der Kinder. Diese Sonderstellung des Pfarrhaushalts wurde auf Martin Luther zurückgeführt, dessen Ehe mit Katharina von Bora als mustergültig angesehen wurde.

Plastisch schildert die Historikerin Luise Schorn-Schütte, wie die Realität in den Pfarrhaushalten des 16. bis 18. Jahrhunderts aussah. Die Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger verweist in ihrem Beitrag im Buch darauf, dass der Pfarrer in den ländlichen Gemeinden als ein Fremder wahrgenommen worden sei. Ein Fremder, der die Zeit für so „unnütze Tätigkeiten“ wie Musik und Literatur, aber auch Vogelkunde und Bienenzucht gehabt habe. Zugleich verwaltete der Pfarrer über die Kirchenbücher die Lebensdaten der Dorfbewohner. Das Pfarrhaus war also das Archiv des dörflichen Lebens.

In den letzten Jahren hat sich der Charakter des evangelischen Pfarrhauses radikal gewandelt. Das machen die weiteren Beiträge des Buches deutlich. So leben inzwischen zahlreiche Singles in den Pfarrhäusern, deren Zuschnitt auf große, kinderreiche Familien ausgelegt ist. Normierte Arbeitszeiten haben das Rollenverständnis im Beruf des Pfarrers verändert – das Pfarrhaus steht nicht mehr jederzeit für Besucher offen. Besonders augenfällig werden die Veränderungen durch die Rolle der Frauen. Einst war die Frau des Pfarrers im Wortsinne die „gute Seele“ des Hauses. Ihr oblagen Kindererziehung und Hauswirtschaft, sie hatte dafür zu sorgen, dass dem Pfarrer im Amt kein Nachteil erwachsen möge. Inzwischen üben viele Frauen selbst das Pfarrersamt aus, während ihre Männer nicht selten in einem anderen Beruf arbeiten.

Eine weitere Herausforderung ist die sinkende Zahl der Kirchenmitglieder. „Heute betreut ein Pfarrer oft mehrere Gemeinden“, sagt Christopher Spehr. So könne das Pfarrhaus nicht mehr Zentrum eines Ortes sein. Doch der Wandel im ländlichen Raum bietet durchaus Chancen: „Die Gemeinde selbst rückt wieder mehr ins Zentrum, wenn das Pfarrhaus an Bedeutung verliert“, sagt Prof. Spehr, der selbst in einem westfälischen Pfarrhaus aufgewachsen ist. Das Pfarrhaus bleibe trotz aller Veränderungen immer noch ein besonderer Ort.


Bibliographische Angaben:
Thomas A. Seidel, Christopher Spehr (Hg.): „Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, Leipzig 2013, 220 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-374-03341-6

Kontakt:
Prof. Dr. Christopher Spehr
Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 6, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 941130
E-Mail: christopher.spehr[at]uni-jena.de 

 

Weitere Informationen:
http://www.uni-jena.de

Montag, 24. März 2014

Indien oder China.

aus NZZ, 24. 3. 2014

Ein neues Zünglein an der Waage?
Indiens Bürger haben genug von den Altparteien - eine spannende Parlamentswahl könnte bevorstehen

von Urs Schoettli 

Vom 7. April bis zum 12. Mai finden in Indien Parlamentswahlen statt. Im Vorlauf wirbelte eine aus Bürgerbewegungen hervorgegangene neue Kraft die Parteienlandschaft gründlich durcheinander. 

Im Westen wird der Wiederaufstieg Asiens, insbesondere Indiens und Chinas, im Wesentlichen als ein ökonomisches Phänomen gesehen. Man ist auf die Kaufkraft der rasant wachsenden Mittelschichten fokussiert, und längst nicht überall wird der Tatsache Rechnung getragen, dass diese historisch einmaligen Entwicklungen auch weitreichende soziale und politische Konsequenzen haben werden. Letztlich werden es nicht Wirtschaftsführer, sondern die politischen Eliten und Entscheidungsinstanzen sein, welche den Ausschlag geben werden, ob das asiatische Jahrhundert im Erfolg oder im Desaster enden wird. 

Schwierige Risikobewertung 

Alljährlich veröffentlichen verschiedene Think-Tanks und kommerzielle Institutionen wie die Economist-Intelligence-Unit Weltkarten, auf denen für jedes Land der Grad an zu erwartender sozialer und politischer Stabilität vermerkt ist. Während in früheren Jahren ganz Westeuropa mit geringen Risikowerten bedacht wurde, werden diesmal Spanien und Portugal als hohe Risiken eingestuft, derweil Griechenland gar in die Kategorie «sehr hohes Risiko» auf gleicher Stufe wie Ägypten und Argentinien eingereiht wird. Während die Volksrepublik China ebenfalls ein Hochrisikoland ist, werden für Indien geringere Risiken für soziale Unrast ausgemacht. Japan zählt zusammen mit der Schweiz und Österreich zum exklusiven Klub der sechs Länder mit sehr geringem Risiko.

Offensichtlich sind Rankings jeglicher Art ein riskantes Unterfangen, da sie nie der Komplexität der Wirklichkeit Rechnung tragen können. Dies gilt ganz besonders bei der Beurteilung von Staaten, bei denen die historischen, kulturellen, geografischen, klimatischen und sozioökonomischen wie auch politischen Rahmenbedingungen höchst unterschiedlich sein können. Immerhin gibt es im Falle der beiden aufstrebenden asiatischen Giganten Indien und China etliche Gemeinsamkeiten. Wir denken dabei an die Milliardenbevölkerung und die geografische Ausdehnung ebenso wie an die jüngere Geschichte mit der Erniedrigung durch fremde Mächte oder an die in den letzten drei Jahrzehnten erfolgte machtvolle Rückkehr in die Weltwirtschaft und auf die Weltbühne.

Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, die Frage zu stellen, weshalb die Volksrepublik ein erheblich höheres Risiko an sozialer Unrast zu verzeichnen hat als Indien, obschon die Indische Union in religiöser, kultureller und sprachlicher Hinsicht ein unvergleichlich viel komplexeres und vielfältigeres Staatsgebilde ist als China. Die Antwort liegt in der grundlegend verschiedenen Natur des politischen Systems in den beiden Ländern. Eine sachgerechte politische Risikoanalyse im Falle Indiens verläuft ähnlich wie beispielsweise in Kanada oder Frankreich. Im Wesentlichen drehen sich die Abwägungen darum, wer bei den nächsten Wahlen gewinnt und ob eher marktwirtschaftlich orientierte Kräfte die Regierung stellen werden oder ob das Pendel in Richtung Sozialdemokratie ausschlägt. Demgegenüber muss bei der Volksrepublik China in einer politischen Risikoanalyse stets auch das Szenario eines Systemkollapses mit unkontrollierbar gewordenen sozialen Verwerfungen eingeschlossen werden.

Es sind nicht böswillige ausländische Beobachter, die eine solche Extremsituation in ihre Erwägungen einbeziehen. Die chinesische Führung selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten vor der Gefahr eines Systemkollapses gewarnt. So gibt es wiederholte Mahnungen, dass, sollte das Krebsübel der Korruption nicht beseitigt werden, letztlich die Herrschaft der KPC bedroht sei. Auch eine ausufernde Inflation, die mittelständische Haushalte schwer in Mitleidenschaft zieht und mühselig erarbeitete Sparvermögen erodiert, gefährdet die politische Stabilität. Schon heute verzeichnen die Sicherheitsbehörden gemäss offiziellen Angaben Zehntausende von Revolten. Dass diese noch keine Gefahr für das System sind, liegt daran, dass es sich dabei um ein Aufbegehren von einfachen Bürgern gegen lokale Missstände handelt. Ganz anders würde es aussehen, wenn landesweite Probleme für Unrast sorgen würden. Dynastiewechsel sind bekanntlich in der chinesischen Geschichte keine Seltenheit.

In mancher Hinsicht hat Indien ähnliche Probleme wie China; Korruption, wachsendes Reichtumsgefälle und Inflation, die vor allem dem kleinen Mann schaden. In China hat die vierte Führungsgeneration von Hu Jintao und Wen Jiabao bei der Meisterung dieser Herausforderungen grösstenteils versagt. In Indien ist die Regierung von Ministerpräsident Manmohan Singh völlig diskreditiert. Weitherum hat sich die Meinung festgesetzt, dass insbesondere die zweite Regierung Singh von 2009 bis heute die korrupteste Administration seit Erlangung der Unabhängigkeit gewesen sei. Eigentlich müsste Indien nach verlorenen Jahren, da sich viele Politiker schamlos bereicherten und eine entscheidungsschwache Regierung die Wirtschaft an die Wand fuhr, reif für einen Regierungssturz sein.

Tatkraft und Fatalismus

Natürlich lassen sich kulturell-religiöse Argumente einbringen, weshalb Indien nicht den Weg einer auch gewaltsamen Auflehnung gegen weitverbreitete Armut, sträfliche Inkompetenz der Verwaltung und fortdauernden Feudalismus gewählt hat. Während China die revolutionäre Lehre vom Mandat des Himmels kennt, herrscht in Indien weitverbreiteter Fatalismus. Der bedeutende konfuzianische Philosoph Mencius (370 bis 290 v. Chr.) hatte für den Tyrannenmord plädiert, sofern der Kaiser seinen Verpflichtungen, für das Wohl des Volkes zu sorgen, nicht nachkommt. Demgegenüber ergaben sich die Inder seit dem siebten vorchristlichen Jahrhundert Karma und Samsara, der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Während aus dem Konfuzianismus die Innerweltlichkeit und der Pragmatismus der chinesischen Zivilisation erwuchsen, vertiefte sich im indischen Kosmos das Wissen um die Vergeblichkeit allen diesseitigen Strebens und Begehrens.

Dem Auftauchen der Europäer in Asien haftete nichts im Voraus Geplantes an. Welche europäische Macht wo Einfluss gewann, war weitgehend dem Zufall und gelegentlich, wie bei den Schlachten bei Plassey in Bengalen (1757) und beim südindischen Seringapatam (1799), dem Glück zuzuschreiben. Doch letztlich führte die Eroberung Indiens durch die Engländer zu einer glücklichen Fügung. Natürlich waren die Briten, zunächst als East India Company und danach als British Raj, nicht als Wohltäter in Indien. Die prachtvollen Country Estates der englischen und schottischen Nobilität zeugen noch heute von der Plünderung des indischen Reichtums. Aber anders als die den Briten vorangehenden fremden Herrscher über Indien, die Mogul-Dynastie, hinterliess der British Raj nach seinem widerwilligen Abzug aus Indien auch eine positive Erbschaft. Wir denken dabei an die Sprache und das Bildungssystem ebenso wie an die Rechtsprechung und die parlamentarische Demokratie.

Heute, bald sieben Jahrzehnte nach dem «Stelldichein mit dem Schicksal», wie Nehru die Unabhängigkeit am 15. August 1947 bezeichnete, besteht einmal mehr Grund dazu, mit Stolz und Zuversicht auf die Stärke der Demokratie in Indien zu blicken. Der Sündenfall Indira Gandhis, die Indien vom Juni 1975 bis März 1977 den Ausnahmezustand auferlegt hatte, war ein heilsamer Schock für das Land gewesen. Seither ist die Frage, wie solide die parlamentarische Demokratie in Indien verankert sei, schlicht kein Thema mehr. Die Fortentwicklung der politischen Institutionen ist danach in mehreren Schritten erfolgt. Zunächst kam der Schock, dass die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangene Kongresspartei ihren Status als natürliche Regierungspartei verlor. Danach gewannen in mehreren Gliedstaaten Regionalparteien an Gewicht, deren Anspruch darauf ausgerichtet ist, spezifisch regionale Interessen zu verfechten. Dies hat zu einer weiteren Zersplitterung der Parteienlandschaft geführt. Obschon das dem britischen Vorbild folgende Majorzprinzip der Einerwahlkreise eigentlich darauf ausgeht, klare Mehrheiten zu beschaffen, ist inzwischen in Delhi die Koalitionsregierung zur Norm geworden.

In den bewegten Wochen und Monaten der Vorwahlzeit vollzog sich in Indien ein weiterer systempolitisch wichtiger Quantensprung. Alles begann vor drei Jahren, als im Zusammenhang mit der Durchführung der Commonwealth-Spiele in Delhi der Moloch einer geradezu endemischen Korruption zutage trat. Doch nicht nur bereicherten sich Politiker und Beamte schamlos; die Spiele, die eigentlich in Analogie zur Pekinger Olympiade der Welt das neue, aufstrebende und erfolgreiche Indien hätten zeigen sollen, verkamen wegen totaler Inkompetenz der Behörden zu einem Fiasko. Delhi stellte sich vor aller Welt als zweitrangige Drittweltkapitale bloss. Als dann in zahlreichen Fernsehkanälen, die einen aggressiven investigativen Journalismus pflegen, die noch und noch bei Korruption und Unfähigkeit ertappten Politiker mit der üblichen Überheblichkeit der Mächtigen auftraten, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Die Kombination von Bestechlichkeit, Unfähigkeit und Arroganz brachte das Blut des neuen städtischen Mittelstands in Wallung.

Wer in Indien und China mit der Obrigkeit zu tun hat, kann die grossen Unterschiede punkto Effizienz nicht übersehen. Obschon China ein autoritäres System hat, gehen Regierung und Verwaltung viel speditiver auf die Anliegen der Menschen ein als im demokratischen Indien. Dort findet sich der Bürger, auch wenn er seine Politiker abwählen kann, stets in der Rolle eines Bittstellers. Die feudalistische Mentalität der Bürokraten und Politiker unterscheidet sich kaum von der Attitüde der britischen Kolonialherren.

In Tat und Wahrheit hat der «British Raj» mentalitätsmässig den Abzug der «burrah sahibs» überdauert. Die meisten indischen Politiker, insbesondere jene der Kongresspartei, geben sich gerne als Sozialisten aus und nutzen dementsprechend die Staatshörigkeit zur Wahrung ihrer feudalistischen Pfründen aus, deren sie sich mit beispielloser Arroganz und Skrupellosigkeit bedienen. Dies alles spielte keine Rolle, solange die indischen Mittelschichten schwach und politisch impotent waren. Eine Bürgerbewegung und seit kurzem eine politische Partei, die Aam Aadmi Party (Partei des einfachen Mannes) haben sich aufgemacht, dies zu ändern. Im Dezember eroberte Arvind Kejriwal, der Chef der erst 2012 gegründeten Aam Aadmi Party (AAP), den Posten des Chefministers in der Hauptstadtregion Delhi.

Auch wenn Kejriwal sich unlängst wegen mangelnder Unterstützung zu einem frühen Rücktritt genötigt sah, war dieser Erfolg in der Höhle des Löwen doch ein emblematischer Sieg des kleinen Mannes über die Mächtigen. Bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen zum indischen Unterhaus, der Lok Sabha, versucht die völlig diskreditierte Kongresspartei, mit einem weiteren Sprössling der Nehru-Gandhi-Dynastie, Rahul Gandhi, sich an den Fleischtöpfen der Macht zu halten. Die zweitwichtigste nationale Partei, die Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei), strebt mit Narendra Modi, dem umstrittenen, aber umtriebigen Chefminister des westindischen Gliedstaats Gujarat, an die Macht in Delhi.

In einem direkten Kräftemessen hätte der blasse, politisch unerfahrene und als Wahlkämpfer wiederholt erfolglose Rahul Gandhi keine Chance. Viele rechnen damit, dass für Modi, der auch in der indischen Unternehmerschaft grosse Sympathien geniesst, der Weg nach Delhi geebnet ist. Wieweit es der Aam Aadmi Party gelingen wird, derartige Kalkulationen durcheinanderzubringen, wird sich weisen müssen. Auch wenn kaum zu erwarten ist, dass sie in der kurzen Zeit ihres Bestehens im ganzen riesigen Indien die nötigen Wählerstimmen hinter sich versammeln kann, um im nationalen Parlament eine wichtige Rolle wahrzunehmen, könnte sie doch als Spielverderberin so manche parteipolitische Kalkulation zunichtemachen.

Veränderter Diskurs

Noch ist es zu früh, verlässliche Prognosen anzustellen, was bei den Unterhauswahlen geschehen wird. Dessen ungeachtet steht schon heute fest, dass die AAP den Diskurs und in mancher Hinsicht das Auftreten der Altparteien zu ändern begonnen hat. Sowohl die Kongresspartei als auch die Bharatiya-Janata-Partei sehen sich mit der geballten Wut von immer zahlreicheren indischen Wählern konfrontiert, die es bisher mit Resignation und Apathie hingenommen hatten, von einer Kaste regiert zu werden, die Bestechlichkeit, Machtmissbrauch und gar Kriminalität als Norm, Ehrbarkeit, Pflichtbewusstsein und Verantwortlichkeit hingegen als längst abgehakte Tugenden aus der Zeit Mahatma Gandhis betrachtet. In den meisten Ländern wäre der Aufruf an die Bürger, mit der Kamera im Mobiltelefon Jagd auf korrupte Beamte und Politiker zu machen, ein subversiver Akt. In Indien markierte er den Auftakt zu einer Wahlkampagne, deren Ausgang allerhand Überraschungen und Umwälzungen mit sich bringen könnte.

Samstag, 22. März 2014

Vor zweihundert Jahren: der Wiener Kongress.


Im August jährt sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Zeitungen sind voll davon. Damals erinnerte sich wohl kaum jemand daran, dass sich im selben Moment zum hundertsten Mal der Wiener Kongress gejährt hatte - jenes diplomatische Großereignis, das das europäische Gleichgewicht geschaffen hatte, das der Weltkrieg ein für allemal zerstören sollte..


aus NZZ, 22. 3. 2014

Das Konzert der Grossen
Der Wiener Kongress, die Diplomatie und die Neugestaltung Europas vor zweihundert Jahren

von Paul Widmer

Von September 1814 bis Juni 1815 dauerte der Wiener Kongress. Die Bilanz des Versuches, Europa nach Napoleons Abtritt von der Bühne der Geschichte neu zu ordnen, fällt zwiespältig aus.

Vor hundert Jahren erschoss der jugoslawische Nationalist Gavrilo Princip in Sarajevo das österreichische Thronfolgerpaar. Diese Tat eines Gymnasiasten löste enorme Kettenreaktionen aus, die in den Ersten Weltkrieg mündeten. Die Millionen von Toten erschütterten das europäische Selbstverständnis und rissen die Vorherrschaft des alten Kontinents mit sich ins Grab. Zu Recht entsinnt man sich dieses Zentenariums. Aber man sollte den Blick auch zweihundert Jahre zurückwerfen, auf den Wiener Kongress. Die beiden Ereignisse stehen in einem inneren Zusammenhang. Damals wurde unter schwierigsten Bedingungen eine Friedensordnung errichtet, die Vorkommnisse wie den Grossen Krieg gerade hätte verhindern sollen. Rund fünfzig Jahre lang gelang dies recht gut. Doch dann versagte die Diplomatie zusehends. Die nationalistischen Kräfte gewannen die Oberhand, und die europäischen Staatsmänner schlitterten sehenden Auges in die Katastrophe.

Der Wiener Kongress war ein diplomatisches Grossereignis. Noch nie waren so viele Fürsten zusammengekommen, um direkt miteinander zu verhandeln. Alle folgten der Einladung des Gastgebers, des österreichischen Kaisers Franz I.: Zar Alexander I., der preussische König Friedrich Wilhelm III., der britische Aussenminister Lord Castlereagh, der doppelzüngige Talleyrand aus Paris; und es wimmelte von Fürsten und Gesandten aus den Mittel- und Kleinstaaten, die die tonangebenden Vertreter der Grossmächte umschwärmten. Die wichtigste Gestalt war indes nicht der Gastgeber, sondern dessen Aussenminister Clemens Fürst von Metternich. Er führte Regie - aus dem Büro, aber auch aus dem Boudoir.

Keine Konferenz wie heute

Der Wiener Kongress war keine Konferenz, wie wir sie uns heute vorstellen. Nichts von einer feierlichen Eröffnung mit allen Teilnehmerstaaten, nichts von geregelten Plenarsitzungen unter der Leitung eines Präsidenten. Eine Vollversammlung gab es nicht - ausser ganz am Schluss, als die meisten Delegationen schon abgereist waren. Dafür traf man sich ständig zu gesellschaftlichen Anlässen, schliesslich soll der Kongress ja ausgiebig getanzt haben, und man antichambrierte nach allen Seiten. Was die Knochenarbeit betraf, so delegierte man sie wie üblich an die Ausschüsse. Die Statistische Kommission beispielsweise erstellte die Grundlagen, welche zur Legitimation von Gebietsverschiebungen dienten.

Das ausschlaggebende Gremium war ein Vierer- und später ein Fünferausschuss. Ihm gehörten die Grossmächte Russland, Österreich, Preussen und England an, später auch Frankreich. Obschon Kriegsverlierer, hatte es Talleyrand mit geschicktem Lavieren verstanden, Frankreich schon nach drei Jahren auf dem Kongress zu Aachen (1818) den Zugang zu diesem exklusiven Klub zu verschaffen. Niemand kam - so der Altmeister der Geschichte der Neuzeit, Heinz Duchhardt, in seinem vorzüglichen Buch «Der Wiener Kongress» (München 2013) - um dieses «Entscheidungskartell» herum. Wer ein Anliegen hatte, musste jemanden aus dem Kreis der Grossmächte gewinnen, damit dieser dort als sein Anwalt auftrat. Die Vertreter der mittleren und kleineren Staaten hatten höflichst vor der Tür zu warten.

Besonders erfolgreich im Lobbyieren war die Genfer Delegation mit Charles Pictet de Rochemont an der Spitze. Dieser Gentleman traf sich jeden Morgen um fünf mit Johannes Graf Capo d'Istria, einem einflussreichen Berater des Zaren - was übrigens auch beweist, dass einige Abgesandte nicht tanzten, sondern hart arbeiteten. Dank den guten Beziehungen zur russischen Delegation gelang es, die internationale Zustimmung zum Beitritt Genfs zur Eidgenossenschaft zu erwirken, das Genfer Territorium auf Kosten Frankreichs und Savoyens zu arrondieren und die Schweizer Neutralität problemlos bestätigen zu lassen. Pictet verrichtete seine Arbeit so gut, dass ihn die Tagsatzung, sobald Genf dem Bund beigetreten war, als ihren Vertreter an die Zweite Pariser Friedenskonferenz entsandte. Unschätzbare Dienste leistete auch der Waadtländer Gesandte Frédéric César de Laharpe. Zar Alexander begegnete seinem ehemaligen Erzieher immer noch mit Hochachtung und hegte für dessen Heimat eine unerschütterliche Zuneigung.

Der Wiener Kongress verfolgte einen Hauptzweck: Nach den Wirren der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen sollte Europa wieder eine stabile Ordnung erhalten. Die Fürsten wollten das vorrevolutionäre Europa auf der Grundlage der Legitimität restaurieren. Das kam vornehmlich Frankreich zustatten. Es wurde grosszügig behandelt. Ludwig XVIII. als legitimer Herrscher über jene Nation, die Europa mit Kriegen überzogen hatte, musste keine nennenswerten Gebiete abtreten, nicht einmal das Elsass. Was für ein Unterschied zu den vom Geist der Revanche erfüllten Versailler Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg!

Aber überall nahm man es mit dem Prinzip der Legitimität nicht so genau. Viele deutsche Kleinststaaten mussten über die Klinge springen. Auch die säkularisierten Territorien wurden der Kirche nicht mehr zurückerstattet. Selbst so grosse Republiken wie Venedig und Genua fanden keine Gnade. Über der polnischen Frage gar entzweite sich der Kongress dermassen, dass man einen neuen Waffengang befürchten musste. Je länger sich die Verhandlungen hinzogen, umso mehr drohten die Teilnehmer das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren und sich in Teilfragen zu verheddern - ein typisch multilaterales Syndrom. Doch da kam Hilfe von unerwarteter Seite. Napoleon entfloh aus seiner Verbannung auf Elba, eroberte Frankreich erneut im Sturm und versetzte die Diplomaten in Wien in Angst und Schrecken. Angesichts der eminenten Gefahr verabschiedeten diese in Windeseile im Juni 1815 die Kongressakte. Was man in der Hast nicht mehr erledigen konnte, nahm man mit nach Paris und regelte es im Zweiten Pariser Friedensvertrag (November 1815).

Grosses Pensum

Was die Diplomaten in Wien in neun Monaten zustande brachten, ist erstaunlich. Die politische Landkarte bekam ein neues Gesicht, vor allem in Deutschland und Norditalien sowie im Osten mit den russischen, preussischen und österreichischen Gebietserweiterungen. Dann machte der Kongress ein für alle Mal mit der deutschen Kleinstaaterei Schluss. Nebenbei anerkannte er auch die Neutralität der Schweiz. Und mit dem Deutschen Bund entstand an der Grenze zu Frankreich ein Staatswesen, das genügend stark war, um französischen Angriffen zu widerstehen, und genügend schwach, um selber keinen Angriffskrieg führen zu können. Allerdings war der Bund ein recht artifizielles Gebilde. Er besass nur geringe Autorität, da die wichtigeren Staaten wie Österreich, Preussen und Bayern ihn an kurzer Leine hielten. Aber er war ein eigenes Völkerrechtssubjekt und besass einige supranationale Kompetenzen, nicht unähnlich der Europäischen Union - freilich wird auf diesen Vorläufer heute kaum je Bezug genommen, wahrscheinlich weil er nur gerade ein halbes Jahrhundert überdauert hat.

Die massgeblichen Akteure auf dem Kongress waren sich bewusst, dass man nach zwanzig Jahren Krieg und Revolution nicht unbesehen die alten Verhältnisse wiederherstellen konnte. Die Beziehungen unter den Staaten sollten mehr auf rechtlichen Grundsätzen beruhen. So verbot der Kongress auf Betreiben von Grossbritannien den Sklavenhandel generell. Oder er regelte erstmals die Schifffahrt auf den Flüssen. Er schuf die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und damit die erste internationale oder regionale Organisation. Auch stellte er das ewige Gezänk unter Diplomaten um Rang und Vorrang ab, indem er ein einfaches Reglement erliess, das den protokollarischen Umgang bis heute bestimmt. Es besagt: Der Vorrang kommt jenem Diplomaten zu, der innerhalb seiner Kategorie, zum Beispiel Botschafter oder Geschäftsträger, länger am Dienstort ist. Die Grösse und die Bedeutung einer Nation, auf die sich die Streithähne bisher immer wieder berufen hatten, spielten keine Rolle mehr. Insgesamt schneidet der Wiener Kongresses in puncto Effizienz im Vergleich zum heutigen multilateralen Konferenzbetrieb recht vorteilhaft ab.

Das «Ungeheuer Gleichgewicht»

Vor allem erkannten die wichtigeren Kongressteilnehmer, dass die im 18. Jahrhundert vielgepriesene Doktrin des Gleichgewichts gescheitert war. Das «Ungeheuer Gleichgewicht», wie der pfiffige Toggenburger Ulrich Bräker spottete, diente ja meistens ohnehin nur dazu, die ruchlose Machtpolitik rivalisierender Herrscherhäuser zu kaschieren. Wenn es dessen noch bedurft hätte, so bewies gerade die Schreckensnachricht von der Rückkehr Napoleons, dass die Grossmächte nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander handeln mussten. In Wien kam die Idee von einer kollektiven Sicherheit auf. Mit dem Zweiten Pariser Frieden wurde sie konkretisiert. Castlereagh drängte darauf, dass die Monarchen der Quadrupelallianz oder deren Gesandte periodisch zusammenkamen, um gemeinsame Probleme zu beraten. Und Zar Alexander träumte von einer «Heiligen Allianz», die alle christlichen Staaten zur Verteidigung einer auf christlichen Grundsätzen errichteten Ordnung vereinen sollte.

Tatsächlich kam die Allianz zustande. Ausser Grossbritannien und dem Kirchenstaat traten ihr alle christlichen Staaten Europas bei. Aber Metternich hatte die Stossrichtung der Vereinigung geändert. Nicht mehr die Verteidigung von christlichen Werten sollte sie bezwecken, sondern die bestehende Ordnung vor bürgerlichen und nationalstaatlichen Umwälzungen schützen. Die Quadrupelallianz beziehungsweise, nach Frankreichs Beitritt, die Pentarchie sah sich als operativer Arm der Heiligen Allianz. Sie beanspruchte für sich ein Interventionsrecht. Die Kleinen, ohnehin in die Kulissen abgedrängt, waren bereit, die Autorität der Grossen zu respektieren, solange diese ihre Unabhängigkeit gewährleisteten. Man schickte sich ins Biedermeier.

Das Kongress-System vermochte die internationale Sicherheit nicht langfristig zu garantieren. Nachdem sich die napoleonische Gefahr endgültig verzogen hatte, schwand der Fundus an Gemeinsamkeiten. Die Heilige Allianz zerbrach schon bald an Meinungsverschiedenheiten über den Freiheitskampf der Griechen. Doch das Konzert der Mächte brachte eine wesentliche Neuerung in der Arbeitsweise der Diplomatie. Der angestrebte Wechsel von Machtrivalität hin zu vermehrter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit erforderte eine quasi permanente multilaterale Diplomatie. Die Grossmächte etablierten diese mit einer Folge von Fürstenkongressen. Vorher hatte es nichts dergleichen gegeben. Nicht zufällig studierte das britische Foreign Office nach dem Ersten Weltkrieg den Wiener Kongress. Ein Historiker hatte Elemente zu identifizieren, die man zum Aufbau des Völkerbunds übernehmen konnte.

Die Spuren des Kongresses sind über den Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen im Institutionellen deutlich ablesbar. Alle drei kollektiven Sicherheitsorganisationen strebten bzw. streben eine möglichst breit abgestützte Mitgliedschaft von Staaten an, sahen bzw. sehen ein Führungsorgan für die wichtigsten Entscheide vor (Fünferausschuss, Völkerbundrat, Uno-Sicherheitsrat), hielten bzw. halten periodische Versammlungen ab (Kongresse und Botschafterkonferenzen, Völkerbundversammlung, Uno-Vollversammlung), und zwischen den Tagungen betreute bzw. betreut ein Sekretariat die Geschäfte. Jede der drei Organisationen verlor auch, so muss man wohl anfügen, rasch ihren Elan. Von der Anlage her sind Konferenzen besser geeignet, Meinungsdifferenzen auszutragen, als sich zu gemeinsamen Aktionen aufzuraffen.

Wie jede Grosskonferenz erledigte auch der Wiener Kongress vieles von dem nicht, was er sich vorgenommen hatte. Kein Wort zu den Verhältnissen auf dem Apennin, kein Wort zur Neuordnung auf dem Balkan. Die Zeit dazu reichte nicht. Das sollte sich rächen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schlitterte der Balkan von einer Krise in die andere. Dieser Brandherd löste schliesslich den Ersten Weltkrieg aus. Die Ursache freilich lag anderswo. Die in der Heiligen Allianz beschworene Solidarität unter den Fürstenhäusern war zusehends abgebröckelt und nach dem Krimkrieg (1853-1856) reiner Machtrivalität gewichen.

Stabilität und Intervention

Anderes wollte der Kongress gar nicht erledigen. Für die bürgerlichen und nationalstaatlichen Forderungen hatte er kein Gehör. Vielmehr war es sein Ziel, solche Bewegungen in Schach zu halten. Er erkannte die Zeichen der Zeit nicht und verpasste folglich, die staatliche Neuordnung Europas mit Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel zu verbinden. Das sollte sich mit zahlreichen Aufständen und namentlich den Revolutionen von 1830 und 1848 rächen. Das Verdienst des Wiener Kongresses besteht darin, nach mehr als zwanzig Jahren Krieg und Zerstörung eine lang dauernde Friedensordnung geschaffen zu haben. Diese funktionierte fünfzig Jahre lang gut und nachher nochmals fünfzig Jahre lang schlecht und recht, ehe sie im Ersten Weltkrieg unterging. 
Die Stabilität wurde freilich durch ein massives Interventionsrecht für die Grossmächte erkauft. Das missfiel schon damals allen ausser den Monarchisten. Die Bilanz ist somit durchaus zwiespältig. Den Zwiespalt zwischen Stabilität und Intervention, zwischen Durchsetzung von Prinzipien und der Respektierung souveräner Staatlichkeit, haben wir bis heute nicht befriedigend gelöst.

Paul Widmer, alt Botschafter, ist Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der Universität St. Gallen. Neueste Buchveröffentlichung: «Minister Hans Frölicher. Der umstrittenste Schweizer Diplomat» (NZZ-Libro, Zürich 2012)